Hinschauen oder Wegsehen? – Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt im Film

Beim diesjährigen Filmfest München hatte ich mir für meine Filmauswahl ein Thema gesteckt: sexualisierte Gewalt. Nicht weil mir das Freude brächte, sondern weil ich es innerhalb des feministischen Diskurses für ausgesprochen wichtig halte und darüber hinaus im Festivalprogramm auffällig viele Filme entdeckte, die sich auf die eine oder andere Weise mit Vergewaltigung beschäftigten. Am Ende habe ich dann aber sogar mehr Vergewaltigungen gesehen als geplant, denn mitnichten sind diese immer schon in der Inhaltsangabe des Festivalkatalogs angekündigt.

Und hier fängt das Problem in meinen Augen bereits an. Mal abgesehen davon, dass eine Triggerwarnung bei sehr expliziten Darstellungen von sexualisierter Gewalt durchaus angebracht wäre, würde ich auch grundsätzlich jedes Vergewaltigungsnarrativ in Frage stellen, das nicht zum eigentlichen Thema des Films beiträgt. Insofern ist es ein himmelweiter Unterschied, ob ein Film wie The Tale Kindesmissbrauch als omnipräsentes Thema auch visuell auserzählt, oder ob in Yung die Vergewaltigung eines minderjährigen Mädchens* mal ebenso am Rande gezeigt wird. Natürlich lässt sich über beide Filme diskutieren, ja, es sollte sogar diskutiert werden, doch wie ein Interview mit Filmfest München Festival TV zeigt, hat Yung-Regisseur Henning Gronkowski an diesem Diskurs ebenso wenig Interesse wie sein Film.

The Tale: Warum wir manchmal hinschauen sollten

Meine eigene Position zur expliziten Darstellung sexualisierter Gewalt hat sich im Zuge des Festivals übrigens verändert. Mein Ausgangspunkt war, dass das visuelle Auserzählen von Vergewaltigungshandlungen grundsätzlich kritisch zu bewerten ist. Und insofern stellten die entsprechenden Szenen in The Tale auch mein größtes Problem mit dem Film dar. Wiederholt sehen wir hier als Zuschauer_innen mit an, wie ein erwachsener Mann* die 13-jährige Heldin Jenny sexuell missbraucht. Die Szenen sind lang und intensiv. Wir blicken aus ihrer Perspektive von unten auf den Täter hinauf und können somit die Bedrohung nachvollziehen. Es gibt allerdings auch einen Blick auf Jenny aus seiner Perspektive. Dieser wurde unabhängig von den Vergewaltigungsszenen gedreht. Nicht nur, dass für die Szenen mit dem männlichen* Hauptdarsteller für Jenny ein erwachsenes Body Double verwendet wurde, die Jungschauspielerin Isabelle Nélisse spielte ihren Part auch nicht mit der Regieanweisung „Vergewaltigung“, sondern wurde angehalten, einzelne Sinneseindrücke, wie beispielsweise „sauer“, mimisch darzustellen.

The Tale © Filmfest München

Problematisch sind diese Szenen natürlich trotzdem und so nutzte ich im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Filmmakers Live“ die Gelegenheit, Regisseurin Jennifer Fox danach zu fragen, weshalb sie sich für diese explizite Darstellung entschieden habe. Fox, die mit The Tale ihre eigene Geschichte mit sexualisierter Gewalt erzählt, hatte eine sehr klare Position: Sie sei es satt, dass bei Vergewaltigungen abgeblendet würde, denn wir dürften nicht immer wegschauen. Auch das ist, wie ich zugeben muss, ein valides Argument, zumal die betreffenden Szenen in The Tale Jenny niemals sexualisieren und als Zuschauer_in keinesfalls voyeuristisch zu genießen, sondern für jede_n schwer zu ertragen sind. Nicht zuletzt ist The Tale auch die ganz eigene Geschichte von Jennifer Fox und sie hat das Recht, diese genau so zu inszenieren, wie sie es für richtig hält. Auch das ist nämlich eines der Themen ihres Films: die Macht über die eigene Geschichte.

Sieben Stunden: Das Problem elliptischen Erzählens

Das elliptische Erzählen einer Vergewaltigung, also das Auslassen der eigentlichen Tat, ist nicht pauschal zielführend. Der deutsche Fernsehfilm Sieben Stunden beispielsweise spart die brutale Vergewaltigung einer Gefängnispsychologin durch einen Insassen auf der Handlungsebene aus und erzählt sie im Voice Over durch die juristisch-distanzierte Anklageverlesung des folgenden Gerichtsverfahrens. Hierdurch bleibt die Tat aber äußerst abstrakt. Die Erfahrung der Betroffenen, um deren Bewältigungsprozess der Film hauptsächlich kreist, bleibt den Zuschauer_innen fremd, so dass auch ihr in der Vergewaltigung wurzelndes Verhalten hysterisch statt nachvollziehbar wirkt. Hier hätte eine Übernahme der Betroffenenperspektive während der Tat, zumindest im Sinne eines Spürbarmachens der mehrfach thematisierten Todesangst, einen narrativen Mehrwert dargestellt.

Sieben Stunden © Filmfest München 2018

Die Perspektive ist an dieser Stelle entscheidend. Es macht einen riesigen Unterschied, ob die von Gewalt betroffene Person ausgestellt wird, wir ihren – im schlimmsten Falle nackten – Körper aus einer voyeuristischen Perspektive betrachten, oder ob wir – wie im Falle von The Tale – die Szene auch aus ihrem Blickwinkel erleben. Sieben Stunden beispielsweise zeigt den nackten geschundenen Körper der Hauptfigur Hanna trotz der Aussparung des Tathergangs auffällig oft und benutzt ihn als Schockmoment. Damit wird die Figur gleich doppelt missbraucht: Für die Machtfantasien ihres Vergewaltigers und für den Betroffenheitseffekt des Fernsehfilms.

Auch auf dramaturgischer Ebene ist die Perspektivübernahme wichtig, um den Kontakt zwischen Zuschauer_innen und Hauptfigur aufrecht zu erhalten. Sowohl Sieben Stunden als auch Alles ist gut haben damit zu kämpfen, dass die Handlungen ihrer Heldinnen schwer nachzuvollziehen sind, im Falle von Sieben Stunden sogar hysterisch wirken. Sich dieser Perspektive tatsächlich zu widmen, bedeutet auch, einen Blick auf das Danach zu werfen, die seelischen Narben und den individuellen Bewältigungsprozess der Figur sichtbar zu machen, der wiederum unterschiedliche Wege gehen kann und nicht grundsätzlich eine Opfergeschichte sein muss. Ein Film wie Yung aber, der eine Vergewaltigung quasi nebenbei erzählt, versäumt genau diese Einbettung.

Ende Neu und A Young Man With High Potential: Der Kontext ist entscheidend

Die kontextuelle Einbettung sollte aber nicht nur in Hinblick auf die betroffene Figur, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene stattfinden. In A Young Man With High Potential von Linus de Paoli vergewaltigt der Held eine bewusstlose Frau* und tötet sie im Zuge dessen versehentlich. Diese Tat steht nicht nur im Zentrum des Films, stellt also das Hauptthema dar, sondern ist durch die Gespräche des Täters mit einem Kommilitonen auch in einen größeren misogynen Diskurs eingebettet, der Frauen* als verfügbare Sexobjekte begreift. Der Film behandelt die Vergewaltigung also nicht als einen beliebigen Plot Point oder singuläres Ereignis, sondern interessiert sich für ihren Hintergrund.

Ende Neu © Filmfest München 2018

Ein Film, der sich für den gesellschaftlichen Kontext der erzählten Vergewaltigung nicht die Bohne interessiert, ist der groteske deutsche Science Fiction Film Ende neu. In einer dystopischen Zukunft haben hier nach einer nicht näher definierten Katastrophe vermeintlich nur Männer* überlebt. Und weil das in der zutiefst sexistischen Logik des Films vermutlich einfach in ihrer Natur liegt, sind diese Endzeitmenschen ausschließlich damit beschäftigt, sich gegenseitig Gewalt anzutun. Kein Wunder also, dass sie mit der jungen Frau*, die ihnen hilfesuchend zuläuft, nichts anderes anzufangen wissen, als sie im Rudel sexuell zu missbrauchen. Diese Szene wird nicht gezeigt, sondern ebenfalls elliptisch erzählt, also durch die Etablierung der Situation und das Sichtbarmachen ihrer Folgen. Als Ursache für das Ereignis kann hier aber nur der von Natur aus bestialische Sexualtrieb des Mannes* herangezogen werden. Das ist erstens eine immens sexistische Zuordnung und zweitens absolut kontraproduktiv, weil die sexualisierte Gewalt von Männern* gegen Frauen* als naturgegeben und damit als Phänomen angenommen wird, gegen das im Grunde nichts unternommen werden kann.

Hier wird klar, worin das Problem besteht, sexualisierte Gewalt entkoppelt von ihrem gesellschaftlichen Kontext zu erzählen. In einem Falle wie Ende neu besteht nämlich keinerlei Grundlage mehr für einen konstruktiven Diskurs, der sich nicht nur mit den Ursachen, sondern auch den Lösungsansätzen beschäftigen könnte. Sexualisierte Gewalt wird als gegeben hingenommen und nicht als Produkt einer patriarchalen, sexistischen und misogynen Gesellschaftsstruktur in Frage gestellt.

M © Filmfest München 2018

M: Vergewaltigung oder Leidenschaft?

Neben der kontextuellen Einbettung finde ich es zudem wichtig, sexualisierte Gewalt auch trennscharf darzustellen. Deshalb sind „versteckte“ Vergewaltigungen besonders kritisch zu hinterfragen. In ihrem Regiedebut M zeigt Sara Forestier beispielsweise eine Szene, in der die körperlich unterlegene und extrem schüchterne Hauptfigur beim ersten Sex von ihrem Freund offensichtlich überrumpelt wird. Trotz ihres verängstigten Gesichtsausdrucks, versichert er sich nicht ihres Einverständnisses. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Sexualität und Vergewaltigung auf gefährliche Weise, umso mehr, da die Beziehung der beiden durch psychische Gewalt gekennzeichnet ist, die jedoch ebenso wenig als solche thematisiert wird. Was Forestier als Leidenschaft inszeniert, ließe sich genauso als gewaltvolle Grenzüberschreitung lesen.

Ist Film nicht einfach Kunst?

Die kurze Antwort ist: Nein. Die lange lautet folgendermaßen: Film ist nicht einfach nur Kunst, sondern spiegelt und beeinflusst unsere Gesellschaft gleichermaßen. Deshalb müssen wir die Darstellung von sexualisierter Gewalt in Film und Fernsehen als Teil des größeren Diskurses über unsere rape culture begreifen.

Dieser Diskurs findet erfreulicher Weise immer intensiver statt, wie beispielsweise durch den Panel Von #metoo to #nomore, den Pro Quote Film auf dem Filmfest München veranstaltete. Am erschreckendsten an dieser Veranstaltung war für mich das Publikumsgespräch, bei dem sich zahlreiche Schauspieler_innen zu Wort meldeten, die sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch als gängige Praxis in der Filmproduktion beschrieben. Daran schockierte mich nicht der Fakt an sich, sondern dass sich diese Menschen nur im geschützten Raum dieser Diskussion zu Wort meldeten und ihre Geschichten nicht in die Öffentlichkeit tragen.

Wie Anita Eckhardt vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen auf dem Podium immer wieder betonte, sollten wir aber nicht die Betroffenen in die Pflicht nehmen, sondern die Ausübenden. Und ich würde das noch erweitern und sagen: Wir sollten uns alle in die Pflicht nehmen. Wir alle sind gemeinsam dafür verantwortlich, ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem diese Stimmen gehört und respektiert werden, in dem Betroffene bei einer Aussage keine negativen Folgen für ihr berufliches oder privates Leben befürchten müssen.

A Young Man With High Potential © Filmfest München 2018

Und teil dieses Klimas ist natürlich auch ein verantwortungsbewusster filmischer Umgang mit dem Narrativ von sexualisierter Gewalt. Vergewaltigung darf nicht als Teil der Normalität dargestellt werden, nicht als etwas, das in der Natur des Menschen liegt, das „eine Frage der Perspektive ist“ oder das halt einfach so passiert. Die häufig kontextlosen Darstellungen von (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen* in Film und Fernsehen hat uns bereits vollkommen abgestumpft. Das wurde mir besonders während des Pressescreenings zu A Young Man With High Potential klar. Als die männliche* Hauptfigur mit dem Teppichmesser ansetzt, um sein Opfer auszuweiden, verließen mehrere Menschen das Kino. Die Ersten standen schon auf, bevor Täter den Schnitt überhaupt nur ausgeführt hatte. Aber während er wenige Minuten zuvor das bewusstlose Mädchen* in einer langen und ausführlichen, wenn auch dabei nicht voyeuristischen Szene, vergewaltigt hatte, verließ nicht eine einzige Person den Saal! Dabei zuzuschauen, wie eine bewusstlose Frau* entkleidet und vaginal penetriert wird, scheint im Vergleich zu einem nur angesetzten Teppichmesser ein ziemlich alltäglicher Anblick zu sein.

Die Verantwortung liegt bei uns allen

Unsere Verantwortung zeigt sich darin, wie wir über sexualisierte Gewalt sprechen, dass wir sie nicht mit Sex verwechseln, wie es das beispielsweise Filmfest München tut, wenn es The Tale auf seiner Webseite mit dem Stichwort „Sexualität“ versieht. Sie liegt darin, auf rape culture Symptome hinzuweisen, beispielsweise im privaten Umfeld Vergewaltigungswitze und andere Formen der Verharmlosung explizit zu kritisieren. Sie liegt übrigens auch darin, mit Partner_innen offene Gespräche über unsere Sexualität, unsere Grenzen und das individuelle Maß an notwendigem Einverständnis zu führen.

Und natürlich sind jene Menschen mit gesellschaftlichem Einfluss, Filmemacher_innen, aber auch Autor_innen wie ich, Lehrer_innen und alle anderen, die Meinungen prägen, besonders gefragt, sensibel mit dem Thema Vergewaltigung umzugehen und sich im Zweifelsfalle dafür Unterstützung zu holen. Ich biete zum Beispiel im kommenden November bei Scriptmakers ein Seminar an, in dem es auch um die Darstellung sexualisierter Gewalt in Film und Fernsehen gehen wird. Und so weit ich weiß, gibt es noch Plätze!

Auf die Frage, wie explizit sexualisierte Gewalt im Film dargestellt werden darf, soll oder muss, gibt es keine einfache Antwort. Aber es ist wichtig, dass wir darüber in den Dialog gehen und nicht davor weglaufen wie Henning Gronkowski im obig verlinkten Interview. Linus de Paoli, der Regisseur von A Young Man With High Potentital, sprach mich beispielsweise nach dem Pressescreenings seines Films an und fragte mich explizit nach meiner feministischen Meinung zu seiner Inszenierung. Es geht nicht darum, „alles richtig“ zu machen, denn was „richtig“ heißt, gilt es noch zu klären. Aber ich bin überzeugt davon, dass sich schon das aufrichtige Interesse an einer sensiblen Darstellung von sexualisierter Gewalt in den Filmen niederschlägt. Insofern ist die Frage „Hinschauen oder Wegsehen?“ aktuell vielleicht sogar wichtiger als ihre Antwort.

Sophie Charlotte Rieger
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