Janis: Little Girl Blue

Jannis Joplin ist die Wegbereiterin für alle weiblichen* Rockröhren unserer Zeit und das Idol einer ganzen Generation von Frauen*. Während ihrer kurzen Karriere sang sie sich die Seele aus dem Leib, ihren Schmerz, ihre Einsamkeit, ihren Liebeskummer: „Take another little piece of my heart now, baby“ – wer kennt diese Liedzeile nicht…

Dokumentarfilme über berühmte Persönlichkeiten sind eine brenzlige Angelegenheit, geraten schnell zu einer Aneinanderreihung von lobhudelnden Talking Heads, Freund_innen, Wegbegleiter_innen der vorgestellten Persönlichkeit, die ja selbst in der Regel nicht mehr zu ihrem Leben Stellung nehmen kann. Das Leben eines Menschen wird also zu einer verbalen Erzählung, einem Märchen der maßlosen Überhöhung oder gar Glorifizierung. Nicht selten treten dann auch fragwürdige Zeitzeugen auf: „Damals, als ich mit Person XY zufällig in einer Schlange bei Kaisers stand…“

© Fantality Corporation

Die Oscar nominierte Dokumentarfilmerin Amy Berg wagt es trotzdem und nimmt sich mit Janis Joplin letztlich auch der musikalischen Vertreterin einer fremden Generation an. Berg erblickte nur zwei Jahre vor Joplins Drogentod das Licht der Welt und hat daher höchst wahrscheinlich selbst keine starke persönliche Bindung an die legendäre Blues-Sängerin.

Diese, auf meiner Seite freilich nur vermutete, Distanz der Regisseurin zu ihrer Protagonistin, ist dem Film jedoch in keiner Minute anzumerken. Im Gegenteil gelingt es Amy Berg, ein intimes und stets glaubwürdiges Portrait zu zeichnen, auch wenn die oben erwähnte Glorifizierung dabei nicht ausbleibt, vielleicht auch nicht ausbleiben kann. Mit sorgsam ausgewählten Interviewpartner_innen, die allesamt einen ehrlichen und zugleich zärtlichen Blick auf Janis Joplin werfen, gibt Berg ihren Zuschauerinnen ein Gefühl für den Menschen hinter dem Idol: eine zutiefst verunsicherte junge Frau auf der Suche nach Liebe und Anerkennung, überrollt von der eigenen Emotionalität, die sie mit diversen Drogen, allen voran Heroin, zu betäuben sucht.

Aber Amy Berg lässt nicht nur Zeitzeug_innen erzählen, sondern auch Janis selbst: in Audio- und Videointerviews, den von Chan Marshal vorgetragenen Briefen Joplins an ihre Familie, aber vor allem auch durch ihre Musik. Die ausgewählten Lieder dienen nicht nur als Untermalung der Bilder, sondern kommentieren sie auch. Die Texte geben Einblick in das emotionale Erleben der Sängerin und verleihen dem Dokumentarfilm eine Tiefe, die Bildquellen alleine nicht transportieren können.

Mit der geschickten Montage von Tonaufnahmen Joplins und Videomaterial aus der jeweiligen Epoche erzeugt Amy Berg zudem ein Gefühl für die Stimmung der 60er Jahre, für das Lebensgefühl der dargestellten Generation. Janis: Big Girl Blue geht weit über die verbale Informationsvermittlung hinaus, ist mehr als nur die Erzählung einer Lebensgeschichte, sondern auch ein audiovisuelles Erlebnis, dass die Zuschauer_innen in eine fremde Zeit, in ein fremdes Leben zu entführen vermag.

© Fantality Corporation

© Fantality Corporation

Die chronologisch strukturierte Dramaturgie schert sich weniger um wohl platzierte Höhe- und Wendepunkte, sondern bemüht sich um eine authentische Abbildungs von Joplins Lebensweg. Die Entwicklung des Mädchens*, vom „unweiblichen“ Mobbingopfer zur Ikone des „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“, ist dabei ebenso eindrucksvoll wie erschreckend. Intensiver als es ein Bio-Pic im Spielfilmformat jemals könnte, macht Janis: Big Girl Blue die körperlichen und seelischen Veränderungen seiner Protagonistin sichtbar. Die wiederkehrenden Drogenexzesse hinterlassen tiefe Spuren in Joplins Gesicht, das schon im zarten Alter von Mitte zwanzig wie das einer in die Jahre gekommenen Bühnendiva wirkt. In ihrer Stimme wie auch in ihrer Mimik drückt sich ein diffuser Weltschmerz aus, der im Falle Janis Joplins wie bei vielen anderen Künstler_innen dieser und anderer Generation den Motor ihrer Schaffenskraft darstellt.

Janis Joplin, so zeigt uns Amy Berg, ist eine dieser Frauen, die in ihrer Gesellschaft keinen Platz gefunden haben bzw. die sich mit dem ihnen zugedachten Platz nicht abfinden wollten. Aus der Frustration heraus, nicht dem gängigen Schönheits- und Weiblichkeits*ideal zu entsprechen, beginnt Janis ihren ganz eigenen Weg zu gehen. Doch trotz der durchaus aggressiven Rebellion gegen das Bild des nett-adretten Mädchens*, bleibt der Schmerz über die soziale Ausgrenzung als Minderwertigkeitskomplex bestehen. Und so ist die Geschichte von Janis sowohl ein tröstliches Versprechen als auch eine Warnung:

Der Schmerz über das eigene Anderssein lässt sich in kreative Energie umwandeln. Aber der gesellschaftliche Druck, Menschen in Formen zu pressen, hinterlässt auch immer seine Spuren. Selbst wenn wir auf das Werk Janis Joplins nicht verzichten wollen, ist ihre Geschichte doch ein mahnendes Beispiel dafür, wie künstliche Körper- und Rollenideale Menschen anhaltend traumatisieren. Und zumindest mir wäre es lieber, wenn diese Erfahrungen der Vergangenheit angehörten.

Kinostart: 14. Januar 2016

Sophie Charlotte Rieger
Letzte Artikel von Sophie Charlotte Rieger (Alle anzeigen)