The Rider

Warum zu Henker sollte irgendjemand auf ein bockendes Pferd steigen, um sich vor grölendem Publikum potentiell zertrampeln zu lassen? Das muss doch Männlichkeits*gehabe sein, Profilneurose, Schwanzvergleich. Kann doch kein Mensch mit Hirn machen sowas…

Denkt noch jemand so über Rodeos? Ich jedenfalls konnte diesem übertrieben maskulinen* Zirkus, dem es allen Gefahren für Leib und Leben zum Trotz um die Demonstration von Mut und Überlegenheit geht, nie etwas abgewinnen. Bis mich Chloé Zhao mit The Rider beschenkte, einem Film, der meine Sicht auf diesen Sport – ja, ich würde es jetzt Sport nennen – vermutlich für immer verändert hat. Meinen Perspektivwechsel erreicht Zhao durch dieselbe filmische Arbeitsweise, die mich schon in Songs My Brother Tought Me bis zum Haaransatz eintauchen ließ: das Ineinanderfließen von Realität und Fiktion.

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Ex-Rodeo-Reiter Brady Jandreau spielt Ex-Rodeo-Reiter Brady Blackburn, der nach einer schweren Kopfverletzung nicht zurück aufs Pferd steigen darf und daran zu zerbrechen droht. Denn wie sich nun beweisen, der Erwartungshaltung von Freund_innen, Familie und Fans gerecht werden? Woher Lebensfreude beziehen, wenn das Glück doch nur auf dem nun verbotenen Rücken der Pferde liegt? Wie Geld verdienen ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung, wenn der Rückweg zum Rodeo durch gesundheitliche Hürden versperrt ist? Wie ein Mann* sein, wenn das was Männlichkeit* ausmacht, das Leben bedroht?

Cowboy-Up!

Auch wenn in The Rider durchaus weitere Personen auftreten, so bleibt Chloé Zhao Brady doch stets auffällig nah. Alle anderen Figuren sind nur Zaungäste in diesem kleinen, zärtlichen Psychogramm eines jungen Mannes* auf der Suche nach einer neuen Identität. Indem uns die Filmemacherin durch die genaue Beobachtung der Interaktion von Mensch und Tier und einer kleinen Portion Western-Romantik die Liebe Bradys zu seiner Berufung spüren lässt, begreifen wir auch den tiefen Schmerz des gescheiterten Reiters. Ein verletztes Pferd würde erschossen werden, wenn es nicht mehr das tun könne, wozu Gott es geschaffen habe: über die Prärie galoppieren – sagt Brady gen Ende des Film zu seiner Schwester Lilly (Lilly Janderau). Ein Cowboy aber, der zum Reiten erschaffen wurde, erfährt keine Gnade. Ihn erschießt niemand, wenn er nicht mehr reiten kann.

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Brady muss stark sein, männlich*. „Cowboy up“ ist ein geflügeltes Wort unter seinen Freunden – ein Pendant zum englischen „Man up“, also „Sei ein Mann“. „Sei ein Cowboy“ bedeutet, trotz Schmerzen, trotz Gefahren wieder aufs Pferd zu steigen, die Zähne zusammenzubeißen, niemals aufzugeben. All das erzählt The Rider ohne sich jemals über das „Macho-Gehabe“ der Figuren lustig zu machen. Chloé Zhaos aufrichtiges Interesse an der Erfahrungswelt ihrer Protagonisten ist spürbar. Und so ensteht das komplexe Bild einer bis auf wenige Ausnahmen rein männlichen* Gemeinschaft, zu der neben Geschlechterstereotypen auch jede Menge Leidenschaft und Verletzlichkeit gehören. Und auch echtes Können. Brady und die anderen sind mehr als abenteuerlustige Jungs, nämlich auch hart trainierende Profis, die sich einer kalkulierten, aber letztlich eben nicht kontrollierbaren Gefahr aussetzen.

Aber wie gelingt Zhao nun dieser respektvolle Blick auf eine Gemeinschaft, zu der sie nicht gehört und als Frau* auch nicht gehören kann? Wie schon in Songs My Brothers Taught Me greift die Regisseurin auf die Geschichte ihrer Schauspieler_innen zurück. Ein Großteil der Filmhandlung basiert auf Brady Jabreaus eigener Geschichte. Die Filmfamilie ist seine echte und selbiges gilt auch für die Freund_innen, die wiederum ihren eigenen Hintergrund in die Fiktion einbringen. Dabei stehen die zuweilen kitschigen Western-Panoramen zu diesem Realismus nicht in störendem Kontrast, sondern verleihen dem Filmkonzept durch die Visualisierung von Bradys Leidenschaft lediglich eine weitere, nämlich emotionale Ebene, die aber kein bisschen weniger wahr ist.

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Der Zusammenhang von Männlichkeit* und ability 

Ergreifend gestaltet sich auch die Kollision des toxischen Männlichkeits*ideals von unbedingter Härte und Unbesiegbarkeit – nach dem Motto „Ein Mann* muss tun, was ein Mann* tun muss“- mit den physischen Grenzen, also der Verletzlich- und ergo Besiegbarkeit der Figuren. Hierin wurzelt Bradys wahre Not und somit das eigentliche Drama des Films.  Und es ist dieses Drama, das – da bin ich sicher – auch realen maskulinistischen Dramen wie beispielsweise der Incel-Bewegung zu Grunde liegt. Umso mehr begrüße ich die feinfühlige und respektvolle Auseinandersetzung Zhaos mit den sexistischen Strukturen, denen sich Männer* in vielen westlichen Gesellschaften ausgesetzt sehen.

Körperliche Integrität im Sine von „ability“ spielt in The Rider aber auch geschlechterübergreifend eine Hauptrolle. Nicht nur Brady lebt seit dem Unfall mit einem Körper, der in seiner „Funktionalität“ von der Norm abweicht. Einem anderen Cowboy fehlt ein Unterarm, der Ex-Rodeoreiter Lane (Lane Scott) ist schwer körperliche behindert und lebt in einem Pflegeheim, Lily hat eine geistige Behinderung. Brady erlebt all das, vor allem aber den eigenen Körper, als identitäre Krise: Nur wer leistungsfähig ist, ist wertvoll. Wenn Brady vor der Herausforderung steht, ein verletztes Pferd zu erschießen, ist diese Szene auch ein Bild für seinen Kampf mit sich selbst. Ist er als Mann* auch dann noch wertvoll und nützlich, wenn er nicht mehr Rodeo reiten kann? Obwohl die Macho-Sprüche à la „Cowboy up!“ zunehmend aufrichtiger Fürsorge Platz machen, wirft sich schließlich niemand Brady in den Weg, als dieser wieder im Rodeo steht. Es ist vielleicht der zärtlichste und zugleich traurigste Moment des Films, wenn Bradys Vater dem Sohn mit einem Nicken signalisiert: „Es ist Dein Leben, das Du riskierst. Und ich verstehe, warum Du es tust. Am wichtigsten aber ist: Ich liebe Dich.“ Ich glaube, das ist genau jene Form des Respekts für die Bürde moderner Männlichkeit*, den Chloé Zhao mit The Rider auch uns ans Herz legt.

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Bei all dem Lob muss aber auch Raum für Kritik bleiben. Auffällig – insbesondere im Vergleich zu ihrem letzten Film – ist Zhaos Tendenz, die Handlung durch Figuren unnötig kommentieren zu lassen. Statt auf die Kraft ihrer Bilder und die Fähigkeiten des Publikums zu vertrauen, liefert die Regisseurin hier die Interpretation ihres Films gleich mit. Die banalen Erklärdialoge aber trüben die Magie ihrer subtilen Metaphern und Parallelismen und rauben dem Gesamtwerk ein Teil seiner Kraft.  All das wäre überhaupt nicht nötig. Denn mit ihrer Arbeitsweise, der Einbindung ihrer Schauspieler_innen in die Verschmelzung von Realität und Fiktion, hat Chloé Zhao einen ungemein fesselnden und tiefgründigen Film geschaffen, einen emotionalen Western über Männer*, die tun müssen, was Männer* tun müssen, dabei innere Grenzen überwinden und ausgerechnet in der eigenen Verletzlichkeit ihre Stärke wiederfinden.

Kinostart: 21. Juni 2018

Sophie Charlotte Rieger
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