Strange Days – Die Gewalt des Blicks

© Kochmedia

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Was für eine Wucht! In Strange Days aus dem Jahr 1995 wirft Kathyrn Bigelow ihr Publikum mitten hinein ist ein nahezu apokalyptisches L.A. in den letzten Tagen des 20. Jahrhunderts. Auf den Straßen herrschen Chaos und Gewalt, Morde und Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Die bedrohliche Atmosphäre erinnert ein wenig an the The Purge – Anarchy, ist hier aber kein organisierter Gewaltexzess, sondern die Normalität. Kein Wunder, dass die Menschen nach einem Weg suchen, dieser Realität zu entfliehen.

Es birgt aus heutiger Sicht eine gewisse Komik, dass die Welt im Jahr 1999 zwar immer noch mit Ziegelstein-großen Handys telefoniert, aber über eine Technologie verfügt, von der wir heute noch Lichtjahre entfernt sind. Ursprünglich fürs FBI entwickelt, können mit Hilfe von sogenannten SQUID-Headsets Erinnerungen auf einer Diskette gespeichert und später beliebig abgespielt werden. Das sehr filigrane Drahtgestell lässt sich problemlos unter einer Perücke verstecken und kann somit auch unbemerkt schlüpfrige Situationen aufzeichnen. Mit dieser unsichtbaren Überwachung (Achtung: Paranoia!) lässt sich freilich auch Schandluder treiben. Und so geraten der Ex-Cop, jetzt SQUID-Disk-Dealer, Lenny (Ralph Fiennes) und seine im wahrsten Sinne des Wortes schlagfertige Kumpeline und Ex-Freundin Mace (Angela Bassett) in eine mörderische Intrige, die das Zeug hat, die ohnehin instabile US-Gesellschaft in einen Bürgerkrieg zu stürzen.

Es ließe sich so viel sagen über Bigelows Film, so viel interpretieren über US-Amerikanische Paranoia, über Rassismus und Polizeigewalt und apokalyptische Motive. So wuchtig wie diese actionlastige Inszenierung daherkommt, so vielschichtig ist sie auch. Doch von all diesen Interpretations- und Durchdringungsansätzen hat mich doch einer besonders beschäftigt: Die Gewalt des Blicks.

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Was nämlich macht der Mensch, wenn er eine Technologie entwickelt hat, mit der er die Erlebnisse einer_s anderen hautnah miterleben und –fühlen kann? Genau: Er macht Pornos. Aber halt! Nicht der Mensch schaut und macht Pornos, sondern der Mann! In Strange Days sind es ausschließlich Männer, die sich mit Hilfe des kabellosen Gimmicks in anderer Leute Gedanken flüchten, anderer Leute Erlebnisse sehen. Die Frau ist in diesen Szenarien ausschließlich die Angeschaute. Damit ist Strange Days quasi ein Film über Laura Mulveys feministische Blicktheorie, die dem Kino grundsätzlich eine männliche Perspektive unterstellt, in der die Frau nur Objekt sein kann.

Drei Ausnahmen gibt es im Film von der mit Sicherheit bewusst etablierten männlich-weiblichen Blickstruktur. Ein Vergewaltiger zwingt sein Opfer mit Hilfe des SQUID-Headsets den eigenen Missbrauch aus der Sicht des Täters mitzuerleben. Die in der Vergewaltigung inhärente Objektifizierung der Frau durch das Täter-Opfer-Machtverhältnis geschieht auf doppelter Ebene: Sie verliert ihren eigenen Blick und ist zugleich gezwungen, sich selbst durch die Augen des Mannes zu sehen, seine Lust an ihrer eigenen Vergewaltigung mitzuerleben. Hier treiben Bigelow und Drehbuchautor James Cameron Mulveys Blicktheorie quasi ins Extremum. Es ließe sich argumentieren, dass auch im männlichen Blick des Kinos ein Akt der Gewalt liegt, da er dem weiblichen Publikum keine andere Chance lässt, als sich selbst mit männlichen Augen in der Position des Objekts wahrzunehmen.

Im späteren Verlauf des Films sehen wir eine Frau, die gerade aus diesem Perspektivwechsel wie in einem sadomasochistischen Unterwerfungsspiel einen sexuellen Kick generiert. Hier handelt es sich um eine kontrollierte, selbst induzierte Situation, in der die Frau aus eigener Entscheidung und Lust heraus die Opferrolle performiert. Es bleibt jedoch eine Opferrolle!

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Der dritte Moment, in der Handlungschronologie vor dem letztgenannten positioniert, ist thematisch vollkommen anders gelagert und deutlich schwieriger zu interpretieren. Hier geht es nicht um das Miterleben einer sexuellen Handlung, sondern um das Beobachten einer Straftat. Mace, die das Headset bislang stringent abgelehnt hat, begibt sich auf Lennys Aufforderung hin in die Erinnerung einer Zeugin, weil – so Lenny – sie das „gesehen“ haben müsse, um es zu verstehen. Weshalb er ihr die Ereignisse nicht verbal darlegen kann, entzieht sich mir vollends. Da ist nichts, was sich nicht auch ebenso gut mit Worten umschreiben ließe. Ist der Mann so sehr auf seine visuelle Wahrnehmung beschränkt, dass ihm keine anderen Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen? Interessant an dieser Szene ist auch, dass es sich bei dem Erinnerungsclip um die Perspektive einer Frau und zugleich eines Gewaltopfers handelt. Und vielleicht liegt gerade in dieser Perspektivverschiebung die große Sprengkraft des Materials.

„I love your eyes. I love the way they see“ – haucht Lennys Ex-Freundin Faith (Juliette Lewis) ihm in einer SQUID-Aufzeichnung entgegen. Und es ist auch Faith, die sich später sexuell ganz dem männlichen Blick unterwirft. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sie deshalb in dieser Geschichte nur verlieren kann, während Mace, die auf ihren eigenen Blick, ihre eigene Perspektive beharrt, triumphiert.

Ach, wie wunderbar emanzipatorisch wertvoll doch die Tatsache ist, dass die Welt – wenn auch in einem übertriebenen Happy Ending – hier erst dann ins Lot kommt, wenn die Menschen aufhören, alles durch die patriarchale Brille zu betrachten und auch Frauen zu Wort und Blick kommen lassen. Ich habe Kathryn Bigelow schon vor diesem Film bewundert, aber jetzt bin ich ein echter Fan!

Bei Koch-Media ist Strange Days gerade auf DVD und BluRay als 20th Anniversary Edition , inklusive einer Bonus-Disk, erschienen. 

 

Sophie Charlotte Rieger
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