Silent Heart – Von Sterbehilfe und Emanzipation

Euthanasie und ALS – zwei Themen, die im Kino zunehmend präsent sind und damit einen klaren Trend markieren, womit sich die Menschen dieser Tage beschäftigen. Mit Vergänglichkeit nämlich, dem Tod, aber auch dem Recht auf Selbstbestimmung. Daher ist es auch kein Zufall, dass Bille August und Christian Torpe drei Frauen in das Zentrum ihres ALS-Euthanasie-Dramas Silent Heart stellen. Der vielschichtige und komplexe Film beschäftigt sich nicht nur mit Sterbehilfe, sondern entwickelt in der philosophischen Verhandlung der menschlichen Selbstbestimmtheit auch feministische Relevanz.

© Movienet

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Die Geschichte ist schnell erzählt: Esther (Ghita Nørby) leidet unter ALS im fortgeschrittenen Stadium. Bald wird sie die Fähigkeit zu sprechen und sich zu bewegen einbüßen. Bevor sie die Kontrolle über ihr Leben und Sterben verliert, möchte sie freiwillig und mit vollem Bewusstsein in den Tod gehen. Zu diesem Anlass versammelt sie ihre Lieben zu einem letzten gemeinsamen Wochenende, darunter auch ihre zwei Töchter Heidi (Paprika Steen) und Sanne (Danica Curcic).

Mit Heidi und Sanne treffen zwei Klischees aufeinander. Die erstere hat den gesellschaftlich akzeptierten, den „richtigen“ Lebensweg gewählt. Sie ist verheiratet, hat einen gut erzogenen pubertierenden Sohn und einen freundlichen, hilfsbereiten Ehemann. Sanne ist das schwarze Schaf, eine Rolle, die ihre dunklen Haare wenig subtil unterstreichen. Wo bei Heidi Konstanz herrscht, ist Sanne vom Chaos umgeben. Ständig wechselnde Partner und das ewige Auf und Ab mit ihrem aktuellen Freund Dennis wirken, als habe sie die Kontrolle über ihr Leben verloren… oder sie niemals besessen. Eine labile Psyche und fehlende Impulskontrolle unterstreichen diesen Eindruck. Die Familie bezeichnet und behandelt sie spätestes seit ihrem gescheiterten Selbstmordversuch als „krank“. „Du kannst keine vernünftige Entscheidung treffen“, beschimpft Heidi im letzten Drittel des Films ihre weinende Schwester. Sanne ist krank, wird von der Familie wie auch der Filmhandlung gleichermaßen pathologisiert. Ihre Zweifel am Freitod der Mutter werden damit jeglicher Legitimität entbunden. Als Zuschauer_innen trauen wir Sannes Einschätzungen ebenso wenig wie ihr soziales Umfeld. Und doch ist es am Ende Heidi und nicht Sanne, deren überschäumende Emotionen die Wochenendpläne zu torpedieren drohen.

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Sanne und Esther – zwei Frauen, deren Recht über ihr Leben und Sterben zu bestimmen von Außenstehenden diskutiert und verhandelt wird. Der deutsche Nebentitel des Films, Mein Leben gehört mir, erinnert nicht zufällig an die feministische Parole „Mein Bauch gehört mir“, mit denen Frauen seit den 70ern für die Legalisierung von Abtreibung kämpfen. Denn auch hierbei geht es um den Kampf um Selbstbestimmung, um die Macht über den eigenen Körper, die Frauen* durch die Kriminalisierung von Abtreibung abgesprochen wird. Die Entscheidung, ob mensch ein Kind gebären möchte oder nicht, wird ihnen abgenommen. Lange wurde Frauen* auch nicht zugetraut, selbst über die Pille Danach zu entscheiden, weil sie diese mit Smarties verwechselt könnten. So mutmaßte zumindest Jens Spahn, zu dieser Zeit gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Das Zentrum des emanzipatorischen Kampfes ist der Kampf um das Recht, über sich selbst bestimmen zu dürfen. Und somit ist der Kampf für die Legalisierung von Sterbehilfe auch immer ein emanzipatorischer.

In Silent Heart wird gemäß patriarchaler Logik die Entscheidungsgewalt zunächst blindlings im Mann* gesucht. Als Arzt spielt Esthers Ehemann Paul (Morten Grunwald) eine zentrale Rolle im Sterbeprozess und sowohl Sanne als auch Heidi wittern eine unrechtmäßige Einflussname seinerseits. Als sie dann noch entdecken, dass ihr Vater mit Esthers bester Freundin Lisbeth (Vigga Bro) eine Affäre hat, scheint die Sache eindeutig.

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Mit dieser Logik wird Esther sukzessive die Verantwortlichkeit ab- und ihrem Ehemann zugesprochen, als sei der Freitod nicht ihre, sondern seine Entscheidung. Glücklicher Weise führt Silent Heart eben jene patriarchale Logik als Konstruktion vor, wenn er Heidis Verschwörungstheorien als lächerlich voreiligen Schluss entlarvt. Plötzlich erscheint der Zweifel an Esthers Selbstbestimmung ebenso absurd wie respektlos. Wie konnten ihre Töchter davon ausgehen, dass sie eine derart wichtige Entscheidung nicht selbst zu treffen im Stande ist, sondern sich durch ihren Ehemann* manipulieren lässt?

Es ist möglich, dass Bille August und Christian Torpe der feministische Subtext ihres Films nicht in vollem Ausmaß bewusst ist. Denn trotz des spannenden Kampfes um Selbstbestimmung tappen sie doch in die Falle, die Frauen* der Geschichte insgesamt als emotional instabil darzustellen. Oder anders gesagt: Silent Heart arbeitet großzügig mit dem Motiv der hysterischen Frau*. Die Rolle des psychisch labilen Familienmitglieds beispielsweise ist ein klassisch weiblich* besetzter Part und auch Heidis voreilige Intervention ist „typisch Frau*“. Es ließe sich demnach ohne Weiteres argumentieren, Silent Heart spräche allen seinen weiblichen* Figuren die Urteilsfähigkeit ab.

Vor dem Hintergrund des Euthanasie-Themas ergibt sich jedoch ein anderes, deutlich komplexeres Bild. Silent Heart hat keine Antworten parat, aber jede Menge Fragen. Wie weit soll die menschliche Selbstbestimmung gehen? Warum hat Esther mehr Recht sich das Leben zu nehmen als Sanne? Wer entscheidet eigentlich, welcher Mensch „gesund“ ist und damit über seinen Körper bestimmen kann und darf? Sollten wir nicht alle Herr_innen über uns selbst sein, mit allem was wir sind und haben? Aber wie gehen wir mit unserer Hilf- und Machtlosigkeit um, wenn wir nicht mehr eingreifen, sondern nur noch zuschauen dürfen? Warum ist es denn so schwer tatenlos danebenzustehen? Welche Ängste und Gefühle quälen uns dabei? Woher kommt der Wunsch nach Kontrolle über andere?

All das sind nicht nur Fragen der Debatte um selbstbestimmtes Sterben. Es sind auch Fragen der Debatte um selbstbestimmtes Leben!

Kinostart: 24. März 2016

Sophie Charlotte Rieger
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