Filmkritik: Pine Ridge

Dieser Text erschien zuerst auf kino-zeit.de

In Nordamerika heißen sie „Native Americans“. Wir nennen sie in der Regel noch immer Indianer, obwohl wir ja inzwischen alle Wissen, dass dieser Terminus nur der geographischen Verwirrung von Columbus entspringt. Es ist schade, dass die deutsche Sprache mir keinen politisch korrekten Terminus liefert, um Anna Eborns Dokumentarfilm Pine Ridge zu besprechen. Die Regisseurin gibt sich so viel Mühe, die schwierigen Lebensbedingungen ihrer Protagonisten darzustellen, dass ich das Gefühl habe, ihnen eine angemessene Bezeichnung schuldig zu sein. Ich werde deshalb im Folgenden auf den erwähnten amerikanischen Terminus zurückgreifen.

© Adomeit Film

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Das Voice Over, das den Film einleitet, bildet die einzige Einführung, die wir in Pine Ridge erhalten. Die Stimme erklärt uns, dass die Native Americans nicht mehr in Zelten, sondern in Häusern lebt. Wir haben es hier nicht mehr mit einer traditionellen Stammeskultur zu tun, sondern mit Menschen, die – wenn auch unter erschwerten Bedingungen – versuchen, den US-amerikanischen Lebensstil anstelle des „nativ-amerikanischen“ zu adaptieren.

Anna Eborns Dokumentarfilm ist eine Aneinanderreihung von Portraits einzelner, meist junger Native Americans, die in einem Reservat namens „Pine Ridge“ leben. Sie beobachtet Alltagsszenen und unterlegt diese zuweilen mit einem Voice Over der Menschen auf der Leinwand, jedoch ohne dass Bild und Ton eine Einheit bildeten. So werden ihre Protagonist_innen zu den Erzähler_innen ihrer eigenen Geschichte. Pine Ridge verfügt über keinerlei Narration oder Dramaturgie. Die einzelnen Episoden sind unzusammenhängend und Eborn kehrt niemals zweimal zu derselben Figur zurück. Oft erreicht sie eine große Nähe zu ihren Protagonist_innen. Die Zurückhaltung ihrer Inszenierung wird besonders deutlich, wenn ein kleines Mädchen mit einer Zahnbürste eine Katze derart malträtiert, dass wir es als Kinozuschauer_innen kaum mit ansehen können. Ich kann nur erahnen, welche Disziplin es erfordert, in diesem Moment in der Beobachtungsposition zu verbleiben, ohne in das Geschehen einzugreifen. Vermutlich ist es gerade diese fehlende Einmischung, die Pine Ridge Authentizität verleiht.

© Adomeit Film

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Die Zurückhaltung hat jedoch auch Schattenseiten. So fehlen Hintergrundinformationen über die Situation der Native Americans. Der Name „Wounded Knee“ fällt mehrfach, ohne dass eine Erklärung mitgeliefert würde. Viele Frage tauchen auf: Warum leben diese Menschen in heruntergekommenen Häusern? Warum gibt es im Reservat so viel Kriminalität? Gehen die Jugendlichen einer Arbeit nach oder besuchen sie eine Schule? Und wenn nicht, warum? Einige der Protagonist_innen teilen mit uns Träume von ihrer beruflichen Zukunft, doch meist wirkt dies so illusorisch, dass wir uns fragen müssen, ob sie tatsächlich auf dieses Ziel hinarbeiten oder das Träumen die einzige Anstrengung ist, die sie zur Verbesserung ihres Lebens unternehmen.

So gelingt es Anna Eborn auch nur bedingt, Vorurteile abzubauen. Im Gegenteil bestätigen sich Klischees wie verstärkter Alkoholismus oder die passive, scheinbar gleichgültige Haltung hinsichtlich der Lebensumstände. In keinem der Häuser, die wir zu Gesicht bekommen, sieht es gemütlich aus, als hätten die Bewohner_innen längst aufgegeben, sich menschenwürdig einzurichten. Es ist dreckig, unordentlich und chaotisch. Vor dem Haus türmt sich der Müll. Das Auto ist von Beulen überseht, die Kleidung ist wild zusammengewürfelt und oft verschlissen. Diese Menschen sind augenscheinlich sehr arm. Aber warum?

© Adomeit Film

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Wir erhalten keinen Kontext, keine Erklärung. Wir sind ganz auf die Bilder und die Erzählungen der Protagonist_innen angewiesen, um die Lebenssituation der Native Americans zu verstehen. Ich bin mir unsicher, ob dies wirklich ausreicht, um dem Thema Rechnung zu tragen. Ein weiteres Problem ist die Omnipräsenz von Hoffnungslosigkeit. Es scheint, als gäbe es keinen Ausweg aus dem Status Quo. Ganz am Ende jedoch, zwischen einzelnen Sequenzen des Abspanns, zeigt uns Ana Eborn noch einmal zwei kurze Momente der Unbeschwertheit. Es sind diese kurzen Szenen, die das Bild komplettieren, ihm Komplexität verleihen und aufzeigen, dass es hier nicht nur darum geht, unser Mitleid für die Menschen auf der Leinwand einzufordern, sondern etwas sichtbar zu machen, das vor allem die US-amerikanische Bevölkerung gerne ignoriert.

Nach der Filmvorführung bei den Filmfestspielen von Venedig sah ich Anna Eborn und einen der Protagonisten im Publikum. Die Zuschauer_innen umkreisten und fotografierten sie wie wild. So unter dem Motto: „Schau mal, ein echter Indianer.“ Sie haben nichts verstanden.

 

Sophie Charlotte Rieger
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