Lügen und andere Wahrheiten

Was ist eine Lüge? Eine strategisch platzierte Unwahrheit? Oder vielleicht auch das Vorenthalten unerfreulicher Wahrheiten? Das geschickte Ausweichen bei Fragen nach pikanten Details?

In ihrem Film Lügen und andere Wahrheiten nimmt sich Regisseurin Vanessa Jopp diesem Spannungsfeld zwischen Lüge und Wahrheit auf ungewöhnliche Weise an, wissen ihre Schauspieler in dem semi-improvisierten Konzept doch selbst nicht genau, wohin die Reise geht. Vielleicht liegt hierin die Wurzel für die authentische Unsicherheit der verschiedenen Figuren, die manchmal selbst nicht zu wissen scheinen, ob sie die Wahrheit sprechen.

© Eurovideo

Die kontrollsüchtige Zahnärztin Coco (Meret Becker) ist sich wenige Tage vor der Hochzeit mit Carlos (Thomas Heinze) dessen Treue plötzlich nicht mehr sicher. Ihre beste Freundin Patti (Jeanette Hain) wiederum verheimlicht ihr die Affäre mit dem gemeinsamen Yoga-Lehrer Andi (Florian David Fitz), der seinerseits ein Geheimnis über seine Vergangenheit hütet. Und dann ist da noch Cocos Assistentin Vera (Alina Levshin), deren russische Familie nach Geld fragt, um die angeblich drängende OP des Vaters zu bezahlen.

Niemand in diesem Ensemble ist so richtig ehrlich mit dem Gegenüber und genauso wenig mit sich selbst und jeder wählt andere Strategien um dem unangenehmen Gefühl der Unsicherheit Herr_in zu werden. Coco wählt Strenge und Kontrolle sowie die Projektion der eigenen Ambivalenz auf ihr Gegenüber, währen Patti zunehmend der Melancholie verfällt. Yoga-Guru Andi glaubt, seine Vergangenheit durch Meditation hinter sich lassen zu können, doch das siebenjährige Zölibat hat nicht nur sexuelle Energien, sondern auch Aggressionen aufgestaut, die langsam an die Oberfläche drängen. Das sorgfältig konstruierte Lügengebäude beginnt zu bröckeln und der Einsturz ist mehr als absehbar. Trotzdem gelingt es Vanessa Jopp, das Interesse ihres Kinopublikums aufrecht zu erhalten, in dem sie es bis zum Schluss in der beruhigenden Illusion einer objektivierbaren Wahrheit belässt, die zum umfassenden Verständnis der Umstände einfach nur enthüllt werden müsste. Auffällig ist weiterhin, dass sich Geheimnisse und Lügen in diesem Film auf zwei Bereiche des gesellschaftlichen Lebens beschränken: Geld und Liebe. Je mehr die einzelnen Handlungsstränge zusammenlaufen, desto stärker nähern sich diese Elemente einander an bis sie schließlich zu einem einzigen zusammenfließen: dem menschlichen Besitzdenken. Liegt hierin vielleicht eine moralische Botschaft?

Lügen lebt von den komplexen, sympathischen Figuren, die verschiedene Facetten des menschlichen Kampfs mit sich selbst darstellen. Es sind die kleinen alltäglichen Begegnungen und Streitereien, die durch ihre Authentizität die größte Kraft entfalten. Dass hier nicht vorab Texte verteilt, sondern Dialoge im Spiel entwickelt wurden, ist der Inszenierung deutlich anzumerken, wirkt doch die Interaktion der Leinwandcharaktere oft wie aus dem Leben gegriffen. So ist auch der Humor sanft und natürlich, entwickelt sich organisch aus den Charakteren und ihren Eigenheiten, ohne sie jemals ins Lächerliche zu ziehen. Insbesondere Florian David Fitz, der ja bereits in Jesus liebt mich die Rolle einer spirituellen Leitfigur üben durften, amüsiert hier mit der überzeugenden Darstellung eines Mannes*, dessen erleuchtete Ausgeglichenheit sichtbar in erster Linie performativ, jedoch nicht verinnerlicht ist. Alina Levshin stellt als ewig bemitleidenswerte Migrantin eine vergleichsweise blasse Figur dar. Mit zartem Stimmchen und spannungsarmer Körperhaltung bleibt die ehemalige Kriegerin hier deutlich unter ihrem Potential. Eine Ausnahme der ansonsten gelungenen Figurenzeichnung bildet Veras Bruder Michail (Ilja Pletner), der mit seinem grenzdebilen Verhalten wie eine Karikatur des Klischee-Russen daherkommt und damit wo immer er auftaucht das realistische Setting auf unangenehme Weise bricht.

Das grob vorstrukturierte Drehbuch von Vanessa Jopp und Stefan Schneider verknüpft geschickt die einzelnen Handlungsstränge dieses Ensemble-Films zu einem harmonischen Ganzen, setzt den Schwerpunkt jedoch klar auf Coco, die Anfang und Ende des Films bildet und als Dreh- und Angelpunkt fungiert. Bei ihr fließen die Einzelschicksale zusammen, so dass ihr Handeln auch stets weitreichende Folgen hat. Und so betrachtet sie sich auch selbst als Fixpunkt, als neutrale Betrachterin, deren Aufgabe es ist, die Lügen der anderen zu identifizieren. Immer wieder stellt sie ihr Umfeld auf die Probe, hakt nach und beobachtet kritisch die Reaktionen. Schließlich muss jedoch auch sie erkennen, dass sie damit keine Stabilität gewinnt, sondern verliert.

Vielleicht ist es dem Improvisationsanteil des Konzepts zuzuschreiben, dass die Geschichte gen Ende aus dem Ruder läuft. Immer konstruierter wirken die Ereignisse, immer übertriebener die Reaktionen der Figuren. Das einst natürlich wirkende Geschehen erinnert zunehmend an ein TV-Drama und spätestens mit dem Auftauchen eines Lügendetektors an eine Fernsehsoap. Schade, dass Vanessa Jopp hier die Glaubwürdigkeit der Figuren einem rührseligen letzten Akt opfert.

Ganz am Schluss kriegt Jopp jedoch noch einmal die Kurve und auch wenn noch immer nicht jede Lüge entlarvt ist, so wird den Zuschauer_innen doch eins klar: Die Wahrheit liegt im Auge der Betrachter_innen. Und die sollten sich als allererstes selbst in den Blick nehmen.

Sophie Charlotte Rieger
Letzte Artikel von Sophie Charlotte Rieger (Alle anzeigen)