Kedi – Von Katzen und Menschen

Wer hätte in den ersten Tagen des Internets gedacht, dass Katzen einst eine derart prominente Rolle in der virtuellen Welt spielen würden? Wer hätte gedacht, dass sich ausgerechnet Katzenvideos viral verbreiten und ein neues, ganz eigenes Genre bilden würden? Von vielen Tieren, die der Mensch mit der Kamera einfangen kann, sind es offenbar ausgerechnet Katzen, die unsere Herzen höher schlagen lassen, eine nahezu magische Wirkung auf uns haben. Inmitten der virtuellen Welt des Internets, in der wir ständig mit schockierenden Nachrichten konfrontiert sind, mit Dingen und Informationen, die uns sorgen, bedrücken und ängstigen, fungieren Katzen als Eskapismus und Trost zugleich.

© Weltkino

Kedi – Von Katzen und Menschen ist in dieser Hinsicht wie ein 90-minütiges Katzenvideo, aber auch so viel mehr. Regisseurin Ceyda Torun geht es nicht um die beliebige Aneinanderreihung von Niedlichkeiten und schon gar nicht um Realitätsflucht. Sie erzählt eine Geschichte. Eine Geschichte über Katzen und Menschen, über die Stadt Istanbul, über die Türkei und auch ein bisschen über die ganze Welt. Ihr Film ist ebenso eine Liebeserklärung an die Samtpfoten wie auch an die türkische Großstadt und irgendwie auch, und das ist vielleicht das überraschendste, an den Menschen.

Wer schon einmal in Istanbul war, dem wird die Omnipräsenz in der Regel gut genährter und gesunder Katzen ebenso aufgefallen sein wie die Fressnäpfe vor Restaurants und Läden. Im Gegensatz zu anderen südlichen Ländern sind die Vierbeiner hier keine unliebsame Plage, sondern Teil des Stadtlebens. Mensch und Tier arbeiten nicht gegen-, sondern miteinander. Und es ist diese Beziehung, um die es Ceyda Torun letztlich geht. Mit der Kamera begleitet sie nicht nur einzelne Katzen, sondern auch ihre menschlichen Kamerad_innen und zeigt dabei Beziehungen, die ebenso mannigfaltig sind wie die Individuen, die sie führen.

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Die große Faszination, die Kedi – Von Katzen und Menschen entfaltet, geht jedoch über die Niedlichkeit der tierischen Protagonist_innen weit hinaus. Torun gelingt es, mit ihrer Bildsprache eine nahezu märchenhafte Atmosphäre zu schaffen, ein tröstendes Paralleluniversum, in das sie ihre Zuschauer_innen einlädt. Mit Close-Ups und wenig Tiefenschärfe erschafft sie eine ungeahnte Nähe zwischen ihrem menschlichen Publikum und den vierbeinigen Held_innen, deren Gesichter tatsächlich Gesichter sind, Ausdruck eines eigenen Charakters und einer eigenen Geschichte. Damit spiegelt die Regisseurin jenen Respekt, den ihre menschlichen Gesprächspartner_innen verbalisieren, wenn sie von ihren Katzenfreund_innen wie von ihresgleichen sprechen. Die Begegnung auf Augenhöhe setzt sich durch die Kamera fort, die oft nur wenige Zentimeter über dem Boden schwebt, um die Perspektive der Tiere einzunehmen, nicht auf sie, sondern durch ihre Augen zu schauen. Das Konzept geht auf: Vom unterhaltsamen Anschauungsobjekt in YouTube-Videos haben sich die Katzen zu ernstzunehmenden Protagonist_innen eines Dokumentarfilms weiterentwickelt.

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Darum alleine aber geht es nicht. Kedi – Von Menschen und Katzen ist vor allem Ausdruck einer großen Sehnsucht nach Freiheit und Kooperation. Die Katzen werden nicht nur als gleichberechtigtes Gegenüber, sondern auch als Inspiration verstanden. Mehrfach betonen sowohl das Voice Over wie auch die menschlichen Protagonist_innen die Freiwilligkeit der Begegnung. Diese Tiere sind ihre eigenen Herr_innen, sie suchen sich aus, mit wem sie Beziehung haben, sie kommen und gehen, wann und wohin sie wollen. Die Katzen symbolisieren jene Freiheit, nach der sich Menschen in gesellschaftlich oder politisch repressiven Systemen sehnen – und das trifft auf fast jede_n Zuschauer_in zu, denn so frei wie diese Katzen ist kaum ein Mensch.

Aber Ceyda Torun spricht mit ihrem Film nicht nur von der Sehnsucht nach dem, was wir vermissen, sondern auch von der Freude an dem, was wir bereits haben. In dem friedlichen Zusammenleben von Mensch und Katze liegt auch der Schlüssel für Solidarität über Unterschiede hinweg. Der Mensch ist sehr wohl zu selbstlosem Handeln in der Lage, zu Nächstenliebe und Frieden. Und wenn wir miteinander ein wenig mehr wie die Menschen und Katzen in diesem Film umgehen würden, wäre so mancher Streit und so mancher Krieg beigelegt.

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Insofern drückt Kedi – Von Menschen und Katzen nicht nur Sehnsucht, sondern vor allem auch Hoffnung aus und damit Trost. Die bedeutungsschwangeren Worte des Voice-Overs rangieren zwar zuweilen auf Kalenderspruch-Niveau, gehen aber mit dem verträumten Stil des Films eine stimmige Symbiose ein. Ceyda Torun will hier eben keine harten Realitäten zeigen, sondern uns in ein Märchen entführen, ein verträumtes Paralleluniversum, das uns nicht mit Zukunftssorgen hinterlässt, sondern mit dem wohligen Gefühl, dass am Ende immer alles gut wird.

Kinostart: 10. August 2017

Sophie Charlotte Rieger
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