IFFF 2015: Pelo Malo

© IFFF 2015

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Wie Legebatterien für Menschen ragen die Wohnhäuser in Caracas in den Himmel. Beängstigend, beklemmend fast. Die Balkone sind Bühnen der menschlichen Existenz, geben Einblick in das Leben ihrer Bewohner, die wie in einem Gefängnis hinter Gittern ihrem Alltag nachgehen.

Eingesperrt ist auch Hauptfigur Junior (Samuel Lange Zambrano), jedoch nicht im tatsächlichen, sondern im übertragenen Sinne. Als Mischlingskind mit krausem Haar leidet er unter seiner Andersartigkeit. Aber es ist nicht nur sein Aussehen, dass ihn von den Jungen aus dem Hochhausviertel unterscheidet, sondern auch seine feminine Ader, die Vorliebe für Gesang und Tanz, die vorgegebene Männlichkeitsmuster zu sprengen droht. Und das in einer Gesellschaft, die durch eine Kultur des Machismo geprägt ist.

Vor diesem Hintergrund ist die Sorge seiner Mutter vielleicht gerechtfertigt. Sie selbst kämpft täglich ums Überleben in einer Gesellschaft, die sie als Frau missachtet. Als einziges Mittel bleibt ihr die Performanz „männlicher“ Stärke und Überlegenheit, weshalb sie die weiche, feminine Ader des Sohnes weder dulden noch ertragen kann. Den Gegenpol hierzu bildet Großmutter Carmen (Nelly Ramos), die jedoch ebenfalls ein Extrem darstellt, wenn sie Junior nahezu zwingt, sich in die Rolle eines Crossdressers zu fügen. Während die eine sich sorgt, ihr Sohn könne Homosexuell sein und deshalb ein ums andere mal einen Arzt aufsucht, will die andere diese Identität durch Kleidung und Performanz forcieren. Keine der Frauen ist jedoch in der Lage, Junior einfach nur als den Menschen zu sehen, der_die er_sie ist. Beide versuchen das Kind gewaltsam in eine Schublade zu pressen.

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In Pelo Malo geht es um Queerness und etablierte Rollenbilder der Gesellschaft, die sich hier vornehmlich durch Äußerlichkeiten manifestieren. Juniors beste Freundin will sich unbedingt im Prinzessinnenkleid fotografieren lassen, während Junior vor allem für die Glättung seiner Haare kämpft, um einem ebenso künstlichen Schönheitsideal zu entsprechen. Damit macht Regisseurin Mariana Rondón deutlich, wie sehr auch Kinder dem Druck der Gesellschaft und ihrer Schönheitsnormen ausgesetzt sind und wie stark diese ihre Identitätsentwicklung beeinflusst und auch erschwert.

In diesem Kontext, dem kritischen Umgang mit Körperbildern, bleibt etwas unklar, weshalb Juniors Mutter Marta (Samantha Castillo) wiederholt barbusig gezeigt wird, obwohl ihre Nacktheit im Kontext dieser Szenen keine Funktion zu erfüllen scheint. Auch ihre Bösartigkeit und Ablehnung des älteren Kindes wirkt übertrieben und schwer nachvollziehbar, droht sie durch ihre Versuche, Junior zu einem „echten Jungen“ zu erziehen, gar die Grenze zum sexuellen Missbrauch zu überschreiten. Ist der Überlebenskampf in der venezolanischen Gesellschaft tatsächlich so stark von männlicher Performanz abhängig? Dies vermag ich nicht zu beurteilen.

Als Abschluss wählt Mariana Rondón ein bedrückendes Bild, das im Grunde keine Optionen zur positiven Veränderung zulässt. Ihr Film zeigt keinen Ausweg aus dem Status Quo, sondern wehrlose Opfer eines patriarchalen Systems. Diese Hoffnungslosigkeit ist zwar bedrückend, hinterlässt das Publikum aber letztlich hilf- und perspektivlos. Damit ist Pelo Malo trotz seines grandiosen Hauptdarstellers und dem ergreifend dargestellten Kampf um eine queere Existenz vor allem Betroffenheitskino, das uns zwar rührt, aber dabei versäumt, uns zur Selbstreflektion zu animieren. Schade.

Sophie Charlotte Rieger
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