Grüße aus Fukushima – Was ist Erinnerung?

Wie begegnen wir dem Chaos des Lebens? Wie bewältigen wir Verlust, Schmerz und Trauma? Wie und was erinnern wir? Was können wir, was wollen wir vergessen? Wie können wir Erinnerung produzieren, Ereignisse im kollektiven und individuellen Bewusstsein festschreiben?

In der zeitlosen Atom- und Tsunamiwüste von Fukushima, einem Spannungsfeld, auf dem Vergangenheit und Gegenwart zusammentreffen, lässt Doris Dörrie zwei Frauen einander begegnen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Zwei Generationen, zwei Kulturen, zwei Varianten des weiblichen Selbstverständnisses – Marie (Rosalie Thomass) und Satomi (Kaori Momoi) scheinen auf den ersten Blick nichts gemeinsam zu haben. Was sie jedoch eint, sind die Ruinen ihrer Existenz – im tatsächlichen wie auch im übertragenen Sinne – die sie gemeinsam wieder zu einem Heim, einem festen Grund unter den trauma-wackligen Füßen aufbauen.

© Majestic

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In Grüße aus Fukushima sind alle Gegensätze nur scheinbar. Es ist ein Film über Begegnungen, nicht nur von Menschen, sondern auch die von Zeitebenen, Welten und Stilen. Es gibt keine voneinander getrennten Pole, die sich diametral gegenüber lägen. Vergangenheit und Gegenwart, Tod und Leben – diese Konzepte gehen ebenso fließend ineinander über wie formale Merkmale der Filmkunst. Doris Dörrie hat ihren Film bewusst zwischen Dokumentar- und Spielfilm angesiedelt und verwehrt ihrem Publikum durch die Widersprüchlichkeit ihrer Inszenierung eine simple Einordnung.

Eine sich frei bewegende Kamera, deren Schwenks oftmals Schnitte ersetzen, suggeriert einen dokumentarischen Blick auf die authentischen Spielorte. Gleichzeitig erinnert die Schwarz-Weiß-Ästhetik stets an die Fiktionalität des Leinwandschauspiels. Was stellenweise improvisiert wirkt, ist das Produkt einer akribischen Drehbucharbeit. „Macht was ihr wollt, aber genau so wie es da steht“, ist Dörries Arbeitsmotto.

Aber was an dieser Geschichte ist dann wahr, was ist erfunden? Und was bedeutet eigentlich „Wahrheit“ im Kontext einer solchen Erzählung?

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Wahr ist, dass 2011 ein Tsunami die Lebensgrundlage tausender Menschen in Japan zerstörte und viele das Leben kostete. Wahr ist, dass durch den Reaktorunfall in Fukushima die umliegenden Gebiete radioaktiv verseucht wurden. Wahr ist, dass die Überlebenden, darunter viele alte Menschen, noch immer in provisorischen Notunterkünften hausen und nicht in ihre – meist ohnehin zerstörten – Häuser zurückkehren können. Und wahr ist auch, dass zu diesen Überlebenden auch die letzte Geisha der Region gehörte, deren Schmerz vor allem darin wurzelte, ein traditionelles Lied nicht an die nächste Generation weitergeben zu können. Wahr ist, dass drei junge Geishas einen Artikel über die alte Geisha lasen, nach Fukushima reisten und sich von ihr unterrichten ließen.

Die drei jungen Geishas treten in Grüße aus Fukushima auf. Sie tragen die Tradition weiter, sogar viel weiter, als es sich ihre Mentorin, die leider vor der Premiere des Films verstarb, vermutlich jemals erträumt hat. Vergangenheit und Gegenwart, Tod und Leben treffen sich also auch in der Performance des alten Geisha-Lieds, das am Ende des Films für beide Protagonistinnen einen Moment der Erlösung markiert.

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Die deutsche Marie ist nach Japan gereist, um ihren Liebeskummer zu überwinden. Wenn sie tatsächliches Leid sähe, so ihr Gedanke, würden die eigenen Probleme trivial erscheinen. Aber so einfach ist es nicht. Eine der Botschaften, die Doris Dörrie ihrem Publikum mit auf den Weg gibt, ist die der Subjektivität von Leid: Unser Schmerz ist immer genau so groß wie wir ihn empfinden. Selbst als Marie sich der alten Geisha Satomi anschließt, die sich in die radioaktiv verseuchte Zone begibt, um in ihr zerstörtes Heim zurückzukehren, wird die deutsche Frau von den Geistern der Vergangenheit verfolgt. „Missing is like living with ghosts“, erklärt Satomi, als Marie nachts den Verstorbenen begegnet. „You attract ghosts because you are unhappy.“

Während Marie vor ihren Problemen davon gelaufen ist und sie dennoch nicht loslassen kann, immer wieder von starken Gefühlen der Trauer und Wut heimgesucht wird, kehrt Satomi trotz oder vielleicht gerade wegen ihres Traumas an den Ort des Geschehens zurück. Auch sie hat, wie Marie, Schuld auf sich geladen, und muss mit den Geistern der Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes Frieden schließen. Und so wie jeder Schmerz und jedes Leid individuell sind, sind es auch die Wege der Bewältigung.

Wie begegnen wir dem Chaos? – Auch das ist eine der vielen Fragen, die den Nährboden für Dörries Erzählung bilden. Sie selbst beschreibt die Dreharbeiten für den Film als „Tanz mit dem Chaos“ und vielleicht ist es diese Intensität des kreativen Prozesses, die der Inszenierung so viel Authentizität verleiht, die verschiedenen psychologischen Ebenen so spürbar macht und „wahr“ erscheinen lässt.

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„Es ist nur ein Film“, sagt Doris Dörrie sehr bescheiden, als sie ihr Werk am 6. April 2016 in der Akademie der Künste in Berlin präsentiert. Immer wieder betont sie die Zusammenarbeit mit Kameramann Hanno Lentz und ihren Darsteller_innen, als wolle sie sich gegen die Lorbeeren wehren, die ihr von Moderatorin Susanne Utsch, Akademiepräsidentin Jeanine Meerapfel und den Zuschauer_innen immer wieder angeboten werden. Und auch am Drehort, so erzählt Dörrie, seien ihr die Zurücknahme des Egos und das Aufbrechen hierarchischer Strukturen besonders wichtig.

Vielleicht ist diese Bescheidenheit auch der Grund dafür, dass sie von Frau Meerapfel in der Anmoderation der Veranstaltung als „Ausnahmeregisseurin“ bezeichnet wird. Während männliche* Kollegen mit ähnlich umfassenden Filmographien gerne als „Autoren“ bezeichnet werden, ist Dörrie eine „Ausnahme“ – eine Formulierung, die einmal mehr verdeutlicht, wie schwierig es uns auch heute noch fällt, den „Künstler-Begriff“ auf Frauen* anzuwenden. Unsere Zeit kennt keine Autorinnenfilme. Sie kennt nur Ausnahmeregisseurinnen, Ausnahmen von der Regel.  Einer Regel, die sagt, dass Werke von Frauen* zu denen der Männer* nicht aufschließen können. Und so erklärt sich wohl auch, dass dieser sowohl stilistisch, wie auch inhaltlich überzeugende Film bei der Berlinale 2016 statt im Wettbewerb in der Nebensektion Panorama zu sehen war.

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Wie und was erinnern wir? Was können wir, was wollen wir vergessen? Wie können wir Erinnerung produzieren, Ereignisse im kollektiven und individuellen Bewusstsein festschreiben?

Grüße aus Fukushima ist selbst die Antwort auf diese durch den Film formulierten Fragen. Kunst, in welcher Form auch immer, ist eine Form der Erinnerung, des Festhaltens einer historischen Situation in all ihrer Komplexität. Deshalb ist Kunst so wichtig. Und deshalb ist es ebenso wichtig, wer diese Kunst erschafft, wer die Auswahl trifft, woran wir uns erinnern sollen, und wer die Perspektive, den Blick auf diese Erinnerungen, prägt.

Und so ist Grüße aus Fukushima ganz nebenbei auch ein Statement für mehr Frauen in der Kunst und die Forderung nach einer Festschreibung der weiblichen* Perspektive der Erinnerung.

Wie begegnen wir dem Chaos des Lebens? Gemeinsam!

Sophie Charlotte Rieger
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