Rico, Oskar und die Tieferschatten

Eigentlich ist es doch irgendwie logisch, dass es zur „Hochbegabung“ auch das Pendant der „Tiefbegabung“ geben muss. Dennoch musste ich erst einmal schmunzeln, als sich Rico (Anton Petzold) zum ersten Mal vorstellt: „Hallo, ich bin Rico und ich bin ein tiefbegabtes Kind!“ Vor ihm steht Katharina Thalbach in einer Rolle irgendwo zwischen Lottofee und Wahrsagerin und verzieht das Gesicht erst in Ratlosigkeit und später zu einem garstigen Grinsen, in das ihr Publikum nur allzu gerne mit einsteigt. Tiefbegabt? Was für ein Lacher!

Aber Rico kann ja gar nichts dafür, dass sein Kopf manchmal brummt wie eine Lostrommel und die eine oder andere Information herausfällt. Dass er er sich für seine Lernschwäche nicht schämt und auch von schadenfrohen Lottohexen nicht aus der Ruhe bringen lässt, hat er seiner Mama Tanja zu verdanken. Karoline Herfurth spielt die junge Mutter, die den Familienetat nachts im Rotlichtmilieu erwirtschaftet, mit einer gänzlich überzeugenden Berliner Schnauze und so viel Herz, als wäre sie für diese Rolle geboren worden. Mir fällt es ja oft schwer, junge Schauspieler_innen, die ich aus Teeny- und Liebesfilmen kenne, plötzlich in der Elternrolle zu sehen. Florian David Fitz ist ein klassisches Negativbeispiel. Dem habe ich den Papa in Da geht noch was einfach nicht abgenommen. Herfurth hingegen wirkt als habe sie nie etwas anderes gespielt.

Es vergehen keine fünf Minuten, da sind so ziemlich alle meine deutschen Lieblingsschauspieler einmal durchs Bild gelaufen. Im Treppenhaus von Ricos Mietshaus begegnen wir Axel Prahl als Schlosser Marrak und Milan Peschel als missmutigem Messie Fitzke. Weitere Nachbarn Ricos sind David Kross und Schmusebär Ronald Zehrfeld, der natürlich als potentielles Love Interest für Ricos Mutter inszeniert wird. Später tritt dann auch noch Anke Engelke als schlecht gelaunte Eisverkäuferin auf. All dies sind trefflich besetzte und äußerst unterhaltsame Nebencharaktere, von denen ich liebend gerne mehr gesehen hätte. Selbstredend aber müssen die Großen im Kinderfilm etwas in den Hintergrund treten, bleiben dabei jedoch ein Highlight für die erwachsenen Zuschauer_innen.

rico oscar und die tieferschatten kl

© 20th Century Fox

Die Jüngeren freuen sich derweil mehr über Ricos Begegnung mit Oskar (Juri Winkler). Der ist zwar hochbegabt, doch stellt sich schnell heraus, dass intellektuelle Kapazitäten nebensächlich sind, wenn man Interessen wie Eiscreme teilt. Kaum ist diese besondere Freundschaft besiegelt, wird sie auch schon auf eine harte Probe gestellt, denn Oskar ist wie vom Erdboden verschwunden. Wurde er vielleicht von dem Kindesentführer geschnappt, der in Berlin gerade sein Unwesen treibt?

Rico, Oskar und die Tieferschatten beginnt als Film über Freundschaft und wird zu einem Kinder-Krimi, denn natürlich muss dem Bösewicht das Handwerk gelegt werden und natürlich sind es Rico und Oskar, die ihm auf die Schliche kommen. Das ist für ein erwachsenes Publikum alles recht offensichtlich angelegt – inklusive der notwendigen Irreführung der Zuschauer_innen – besitzt aber so ungemein viel Charme und Herz, dass es – wenn schon nicht spannend – so doch zumindest unterhaltsam gestaltet ist.

Kurz gesagt: Der Film überzeugt. Sogar die Kinderdarsteller sind gar nicht übel. Insbesondere Anton Petzold spielt mit einer immensen Energie, mit der er den ohnehin schüchternen Oskar zuweilen in den Schatten stellt. Die finale Verfolgungsjagd nach dem Entführer ist ungemein glaubwürdig inszeniert. Regisseurin Neele Leana Vollmar gelingt es, diese Passage temporeich und dabei erstaunlich gewaltfrei zu inszenieren. Sie spart sich sogar die klassischen Slapstickeinlagen, wie wir sie aus Kevin Allein zu Haus oder auch Pippi Langstrumpf  kennen und die aus den oft recht brutalen Unfällen des Bösewichts Schadenfreude generieren.

Ein solches Vorgehen ist in Rico, Oskar und die Tieferschatten fehl am Platz, denn hier geht es um Respekt. Es geht um den Respekt vor Menschen, die anders sind. Schon allein der Begriff der „Tiefbegabung“ zeigt die Idiotie von Stempeln und Schubladen. Wir sind nicht hoch- oder tiefbegabt, sondern wir sind Menschen und mit all unseren Eigenarten unvergleichlich wertvoll. So kommt es auch, dass in Ricos Haus gut verdienende Mitte-Yuppies (David Kross) mit Präkariats-Müttern (Karoline Herfurth) Tür an Tür leben und einander freundlich und hilfsbereit begegnen – eine Utopie, die ich in meinem Berliner Alltag gerne verwirklicht sähe.

Nur ein Detail schmälert meine Begeisterung über diesen ansonsten rundum gelungenen Kinderfilm. Die beiden zentralen Figuren sind männlich. Das einzige Mädchen taucht in einer Nebenrolle auf und hat keine fünf Minuten Screentime. Das Geschlechterverhältnis in Ricos Mietshaus ist ebenso unausgewogen. Unter den fünf Nachbar_innen findet sich nur eine Frau, die – wie sollte es auch anders sein – die Aufgabe einer Babysitterin übernimmt, eine Vorliebe für Liebesfilme hat und den Nachrichtenmoderator anhimmelt. Ricos Mutter glänzt durch Abwesenheit (ein Phänomen, das ich schon einmal in einem anderen Artikel in den Blick genommen habe). So zeigt Rico, Oskar und die Tieferschatten leider eine Männerwelt, in der Mädchen sich kaum wiederfinden können. Wirklich schade!

Diesen Kritikpunkt außen vor gelassen, habe ich lange keinen deutschen Kinderfilm mehr gesehen, der mich derart überzeugt und auch als Erwachsene unterhalten hat wie dieser, der ohne pädagogischen Holzhammer eine kluge Geschichte erzählt und so liebevoll mit seinem Thema und den Charakteren umgeht. Das ist großes Kino nicht nur für die Kleinen!

Kinostart: 10. Juli 2014

Sophie Charlotte Rieger
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