FFMUC 2018: Familie Brasch

Im Deutschen Historischen Museum in Berlin wird die Geschichte Deutschlands auf zwei Stockwerken erzählt. Im Obergeschoss endet sie vor dem Zweiten Weltkrieg. Als ich das Museum das erste Mal besuchte, gemeinsam mit einem mexikanischen Freund, dachte ich für einen Sekundenbruchteil, die Ausstellung ende tatsächlich an dieser Stelle und ich witzelte völlig unsinnig: „Über den Rest sprechen wir nicht so gerne.“

Wer in Deutschland eine Schule besucht hat, weiß, dass dieser Satz weder witzig noch zutreffend ist. Kein Thema wurde in meiner Schullaufbahn so ausführlich behandelt wie der Holocaust und das natürlich aus gutem Grund. Aber danach endete die deutsche Geschichte tatsächlich auf mysteriöse Weise. Das „nächste Stockwerk“ erschloss sich mir beispielsweise erst im dreizehnten Schuljahr, als das geteilte Deutschland im Grundkurs „Politische Weltkunde“ zur Sprache kam. Und 17 Jahre später in der Pressevorführung von Familie Brasch.

© Filmfest München 2018

Ausgangspunkt für den Film ist Marion Braschs Buch Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie, aus dem wir im Voice Over immer wieder Passagen hören – gelesen von Marion Brasch selbst, die somit scheinbar zur Erzählerin des Films wird. Scheinbar deshalb, weil Familie Brasch viel mehr ist als nur die Geschichte der titelgebenden Familie, nämlich auch ein Dokumentarfilm über Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.

Marions Vater Horst Brasch geht als katholischer Jude ins Exil und kehrt nach dem Zweiten Weltkrieg als überzeugter Sozialist nach Deutschland zurück. 1946 gründet er mit Erich Honecker die FDJ und ist maßgeblich am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik beteiligt. Umso härter trifft es ihn, dass seine Söhne sich zu systemkritischen Künstlern entwickeln. Der Älteste, Thomas Brasch, wird schließlich mit seiner damaligen Lebensgefährtin Katharina Thalbach in die BRD ausgewiesen, wo sein Debutfilm Engel aus Eisen Kultstatus erreicht.

© Filmfest München 2018

Es ist auch Thomas, der im Zentrum von Hendels Dokumentarfilm steht. Bei den Interviewpartner_innen handelt es sich vornehmlich um seine Weggefährt_innen, seine Biographie ist der rote Faden der Narration, die durch seine Brüder Klaus und Peter sowie den Vater ergänzt wird. Die Frauen* bleiben dabei Randfiguren. Insbesondere Marion Brasch ist vor allem Erzählerin, manchmal vor, manchmal hinter der Kamera, jedoch nicht selbst Thema ihrer Erzählung. Und das bleibt für mich der einzige Wermutstropfen in diesem sonst ungemein gelungenen Film.

Die große Stärke von Familie Brasch ist die Montage von Jörg Hauschild, die Interviews, Romanpassagen und Elemente einer Theaterinszenierung von Marion Brasch und ihrer Tochter Lena zu einem chronologischen Familienepos verbindet, der untrennbar mit der Entstehung beziehungsweise dem Zerfall der DDR verknüpft ist.

Die Rebellion der Funktionärskinder und der darin resultierende innerfamiliäre Konflikt, ein versuchter Suizid, der Aufstieg und Fall von Thomas Brasch in der BRD – all das klingt nach dem Stoff eines fiktiven Fernseh-Dreiteilers. Warum aber ein Dokumentarfilm? Annekatrin Hendels Version von Familie Brasch hat den klaren Vorteil unfassbar charismatischer Protagonist_innen, die dem informativen Fundament des Films durch ihren persönlichen Bezug und zuweilen auch ihren ganz persönlichen Witz Tiefe verleihen. So kann Hendel Emotionen transportieren, ohne rührselig oder melodramatisch zu werden. Wenn Familie Brasch rührt, dann nicht aus dramaturgischem Kalkül, sondern weil die Menschen und ihre Geschichten in ihren Zuschauer_innen echte Empathie hervorrufen.

© Filmfest München 2018

Natürlich bleibt Familie Brasch auch als Dokumentarfilm eine Form der Inszenierung und somit eine Konstruktion. Dass es sich immer nur um eine Version von vielen handelt, reflektiert zumindest Marion Brasch in Bezug auf ihren Roman. Und natürlich setzen auch Regisseurin Annekatrin Hendel und Editor Jörg Hauschild die verschiedenen Stimmen zu nur einer von vielen möglichen Narrationen zusammen. Das schmälert meine Begeisterung für diesen Film jedoch nicht im Geringsten, zumal er mir ein neues Stockwerk in der deutschen Geschichte geöffnet beziehungsweise dieses mit deutlich mehr Exponaten versehen hat. Ach, wäre mein Grundkurs „Politische Weltkunde“ doch nur halb so packend gewesen wie Familie Brasch. Dann wäre aus mir vielleicht glatt noch eine Historikerin geworden.

Sophie Charlotte Rieger
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