FFMUC 2018: Dorfband (Village Rockstars)

In einem kleinen, abgelegenen Dorf in Nordost-Indien träumt ein Mädchen* auf der Schwelle zur Pubertät davon, mit ihren Freunden eine Rockband zu gründen. Eine richtige. Mit echten Instrumenten, statt der Styropor-Attrappen, die sie sich gebastelt haben und mit denen sie im Dorf kleine Playback-Konzerte aufführen. Aber in einem Setting, in dem die Mutter (Basanti Das) alleine für Dhunu (Bhanita Das) und ihren Bruder sorgt, Turnschuhe echte Luxusobjekte darstellen und eine Überschwemmung die Ernte vernichtet, ist eine Gitarre ein ziemlich teurer Traum. Mal ganz abgesehen, dass es sich für Mädchen* hier nicht gehört, auf Bäume zu klettern oder mit Jungen* in einer Band zu spielen – auch nicht mit Styropor-Instrumenten.

© Filmfest München

Wo sonst von rührseliger Musik untermalter Elendsvoyeurismus den westlichen Blick auf die „armen Kinder in Indien“ lenkt, erschafft Regisseurin Rima Das mit Dorfband das dokumentarisch wirkende Portrait einer indischen Dorfgemeinschaft, in dem die Liebe der Filmemacherin zu ihren eigenen Wurzeln in jeder Minute spürbar ist. Diese stammt selbst aus einem keinen Dorf der Region, hat nie eine Filmhochschule besucht und mit Dorfband nun ihren zweiten Spielfilm vorgelegt, bei dem sie nicht nur Regie und Drehbuch, sondern auch Kamera, Produktion und viele weitere Schlüsselpositionen selbst verantwortet hat.

Obwohl der Filmtitel anderes vermuten lässt, verzichtet Dorfband weitgehend auf Filmmusik und verlässt sich ganz auf den Soundtrack der Natur, in der die jungen Held_innen zu Hause sind. Fast die komplette Handlung spielt sich unter freiem Himmel ab, selbst dann, wenn es wie aus Kübeln schüttet und sich die Wiesen in einen schlammigen Fluss verwandeln. Auch die Dialoge sind in einigen Szenen auffällig leise, als wollte Rima Das hier die Bilder für sich sprechen lassen.

Die zweite Säule des Konzepts bilden die Kinderdarsteller_innen, allen voran Hauptdarstellerin Bhanita Das, eine Cousine der Regisseurin. Die Natürlichkeit und Authentizität ihrer Leinwandpräsenz ist jedoch sicher nicht nur eine Frage des Talents, sondern auch eine Stärke der Regieführung. Rima Das taucht ganz in die Welt der Dorfkinder ein und blickt durch ihre Augen auf die Umwelt und Ereignisse. Es ist auch diese Perspektive, diese Augenhöhe, die das, was wir als deutsches Publikum vielleicht als Armut empfinden, einfach nur Normalität sein lässt.

© Filmfest München 2018

Schließlich tragen auch Handkamera und natürliche Lichtquellen, oder in der Dunkelheit das Fehlen derselben, zu einem quasi-dokumentarischen Stil bei, der stets wie eine Beobachtung, niemals aber wie eine Inszenierung wirkt. Rima Das erzählt ihre Geschichte mit auffälliger Ruhe und ohne große Dramen. Sie zeigt Dhunus Alltag, die Familie, Schule, Freunde. Eher nebenbei als mit dem Zeigefinger erzählt sie dabei auch von patriarchalen Strukturen, Armut und den verheerenden Auswirkungen der jährlich stattfindenden Überschwemmungen. Doch in all dem steckt ebenso wenig Wertung wie eine emotionale Daumenschraube: Dorfband drückt auch in seinen berührenden Momenten niemals auf die Tränendrüse.

Einerseits erreicht Rima Das durch diesen Stil, der, wenn auch dokumentarisch wirkend, natürlich durch und durch eine Inszenierung bleibt, große Authentizität. Dafür opfert sie jedoch eine Spannungsdramaturgie, die ihr Publikum nicht nur stärker an die Geschichte, sondern auch an die Figuren binden könnte.

© Filmfest München 2018

Die Geschichte eines Mädchens*, das sich in einer Jungs*clique behaupten möchte und darauf spart, sich einen materiellen Traum zu erfüllen, erinnerte mich einerseits an die saudi-arabische Wadjda und ihr ersehntes Fahrrad. Doch zieht sich Dhunus Wunsch nach der Gitarre keinesfalls vergleichbar als roter Handlungsfaden durch Dorfband. Vielmehr bildet das Instrument den Rahmen der Geschichte, taucht an Anfang und Ende auf, verliert aber im Mittelteil fast vollständig seine Bedeutung. Hierdurch unterscheidet sich Dorfband auch maßgeblich von einem Film wie Tesoros, der zwar ebenfalls die dramaturgische Macht in die Hände der Kinderdarsteller_innen legt und auf diese Weise abseits konventioneller, „erwachsener“ Wege erzählt, dabei aber trotzdem immer einen klaren Fokus, nämlich den titelgebenden Schatz, im Blick behält. Eine solche Richtung fehlt Dorfband deutlich, denn insbesondere für ein Kinderpublikum, für das sich der Einblick in Dhunus Lebenswelt besonders interessant gestalten könnte, ist Rima Das’ beobachtende Erzählung wohl auf die Dauer wenig reizvoll.

Vielleicht aber ist Dorfband auch gar kein Coming of Age oder Kinderfilm, sondern eine altersunabhängige Geschichte von Emanzipation. Warum sie jedes Jahr von neuem das Feld bestellen würde, wenn sie doch wisse, dass die Flut es wieder zerstöre – das möchte Dhunu von ihrer Mutter wissen. „Weil es das Einzige ist, was uns bleibt!“ antwortet diese völlig unbeeindruckt. Darin liegt kein Drama, kein bemitleidenswerter Kampf gegen Windmühlen, sondern Kraft und Optimismus. Steht das Feld unter Wasser, so muss eins halt warten bis es wieder trocken ist und von vorne beginnen. Und wer nur genug daran glaubt, bekommt dann sogar eine Gitarre!

Sophie Charlotte Rieger
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