FFHH 2018: Drei Gedanken zu THE HOUSE THAT JACK BUILT

Als The House That Jack Built in Cannes seine Premiere feierte, löste der Film von Lars von Trier einen – mit Sicherheit wohl kalkulierten – Protest aus: Angeblich verließen mehr als 100 Menschen den Saal. Das alleine sagt wahrlich noch nichts über die Qualität der Werks aus, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass aus der PV zum Berlinale Gewinner Touch Me Not mindestens genau so viele Leute geflüchtet sind. Diese Reaktionen zu erörtern, wäre spannend, soll aber heute nicht mein Thema sein. Stattdessen habe ich mir zu The House That Jack Built mal wieder Drei Gedanken gemacht. Und eines sei verraten: Mein Urteil wird euch überraschen!

© Zentropa / Christian Geisnaes

1. Jeder Marvel-Film ist brutaler

Ich habe das Schlimmste erwartet. Ich habe mich sogar direkt an den Ausgang gesetzt, für den Fall, dass ich das brutale Leinwandschauspiel nicht ertragen könnte. Nach den Schilderungen der Kolleg_innen aus Cannes war ich auf ein unerträgliches Gemetzel eingestellt. Immerhin handelt es sich auf der Handlungsebene um eine Aneinanderreihung einzelner Frauen*morde.

Da ich Horrorfilmen und Torture Porn in der Regel aus dem Weg gehe, liegt es mit Sicherheit nicht an einem Gewöhnungseffekt, wenn ich jetzt verkünde, schon deutlich schlimmere und voyeuristischere Gewaltdarstellungen gesehen zu haben als in The House That Jack Built. Ja, ich würde sogar so weit gehen, mich ausdrücklich darüber zu wundern, dass Menschen darin noch etwas Skandalöses sehen. Weil da Frauen brutal ermordet werden? Echt jetzt? Freilich ist es weder eine Entschuldigung noch eine Beruhigung, dass diese Bilder in Film und Fernsehen quasi Standard sind, aber es stellt sich für mich dennoch die große Frage: Warum plötzlich diese Aufregung?

Ja, die Darstellungen von Gewalt sind explizit und nein, es wäre vielleicht nicht zwingend notwendig gewesen zu zeigen, wie Hauptfigur Jack einem Opfer die Brust abschneidet. Gleichzeitig empfand ich aber auch diese Szene ehrlich gesagt als angemessen kurz. Mit Torture Porn, wie in vielen Kritiken behauptet, hat das meines Erachtens wenig zu tun. Ich sehe hier nicht, dass sich Film und Publikum an körperlicher Gewalt weiden. Welchen Mehrwert das Ganze bietet, ist dann aber wieder eine andere Frage.

Zudem empfinde ich es als wichtig und richtig, die brutalen Konsequenzen der zuweilen fast beiläufig begangenen Morde in aller Deutlichkeit zu zeigen. Als Psychopath hat Jack bei seinen Taten kaum eine Gemütsregung – außer vielleicht den misogynen Ärger über „nervige“ Frauen*. Er behandelt seine Opfer so wie wir vielleicht Insekten, über die wir auch nicht weiter nachdenken, wenn wir sie aus Ekel zerdrücken. Die toten Körper wiederholt in aller Drastik sichtbar zu machen, ist auch eine permanente Erinnerung daran, dass hier Gewalttaten stattgefunden haben. Oder anders gesagt: Die Gewalt ist omnipräsent und wird nicht durch Unsichtbarkeit entschärft. In dieser Hinsicht ist jeder Marvel-Film brutaler, da beispielsweise bei den Avengers stets massenweise Menschen sterben, ohne dass dies jemals thematisiert oder auch nur sichtbar gemacht wird.

Zugegeben: Es handelt sich bei Jacks Opfern fast ausschließlich um Frauen*, was dem Ganzen zweifelsohne eine unangenehme Komponente verleiht. Die Opfer sind meist namenlos und zum Teil so nervtötend, dass Jacks Aggression gegen sie auf zweifelhafte Weise nachvollziehbar wird. Dadurch unterscheiden sie sich maßgeblich von den männlichen* Opfern. Die nämlich treten, ohnehin in der Unterzahl, entweder als Kollateralschäden auf, also als Figuren, die Jack schlicht und einfach im Weg stehen, oder als beliebig ausgewählte Mittel zum Zweck. Männliche* Opfer werden jedenfalls im Gegensatz zu den Frauen* niemals auf Grund ihrer vermeintlichen Fehltritte ermordet.

Jack hat also eine sehr andere Haltung zu Männern* als zu Frauen*. Er spricht Männer* mit ihren Namen an, während die Frauen* für ihn (und ergo auch für uns) weitgehend anonym bleiben oder wie im Falle seiner Freundin Jacqueline einen erniedrigenden Spitznamen verpasst bekommen. Für diesen Unterschied interessiert sich Lars von Trier in seinem Film allerdings bedauerlich wenig.

© Zentropa

2. Incels kommen in die Hölle

„Incel“ – das steht für „Involuntary Celibacy“, also unfreiwillige Enthaltsamkeit und ist eine der schlimmsten Ausgeburten zeitgenössischer Misogynie. Als „Incels“ bezeichnen sich vermeintlich von Frauen* gedemütigte Männer*, die gemeinsam zum Teil brutale Rachefantasien entwickeln. Das geht von organisierten Massenvergewaltigungen bis hin zum Feminizid. Und wir können uns sicherlich alle darauf einigen, dass es sich hier um moralische Abgründe handelt, in die wir lieber nicht vordringen wollen.

Nun ist es durchaus problematisch, wenn Jacks Opfer, wie oben beschrieben, nervtötend wirken und wir ihren Tod vielleicht sogar ein klein wenig herbei sehnen, damit die „Zicke auf der Leinwand endlich aufhört zu quasseln“. Auch wenn Jack mehrfach Frauen* ermordet, deren legitime Grenzziehung für ihn eine Erniedrigung darstellt, ist das natürlich eine klassische Incel-Perspektive. Der selbstmitleidige Satz „Why is it always the man’s fault?“ könnte jedenfalls auch direkt aus einem Incel-Forum stammen.

Diese Rhetorik ist im Fall von The House That Jack Built deshalb eine so brenzlige Angelegenheit, weil wir als Zuschauer_innen der Hauptfigur so außerordentlich nah sind. Jack ist unsere Identifikationsfigur und zwar insofern, als dass wir bis zu einem gewissen Grad Empathie aufbringen müssen, um dem Film folgen zu können: Wir versuchen zu verstehen, weshalb er tut, was er tut. Vermutlich wirken einzelne Frauen*figuren auch gerade deshalb besonders anstrengend oder „dumm“, weil es sich hier um Jacks misogyne Perspektive handelt, die der Film vollständig übernimmt.

Aber nährt der Film auch frauen*feindliche Überzeugungen?

In der Rahmenhandlung steigt Jack hinab in die Hölle und berichtet seinem Begleiter auf dem Weg stolz von den brutalen Morden. Auch wenn der Psychopath selbst keinen qualitativen Unterschied zwischen Himmel und Hölle zu machen scheint:. Diesmal kommt Jack nicht ungeschoren davon. Diesmal muss er die Konsequenzen für sein Handeln tragen. Lars von Triers Urteil ist eindeutig: Dieser Mensch hat die endlosen Qualen des Höllenfeuers verdient.

Der Raum, der bei der Inszenierung der Morde für das Grauen des Opfers entsteht und der uns die Schrecklichkeit der Ereignisse vor Augen führt (ein Raum, der wie zuvor ausgeführt, in Marvel-Filmen nicht aufgemacht wird), kategorisiert auch den Aggressor eindeutig als abgründig – eine Einordnung die allerdings durch die humoristischen Anteile des Konzepts aufweicht. Wenn Jack beispielsweise auf Grund seiner Zwangsneurose trotz nahender Polizei mehrfach an den Tatort zurückkehren muss, um wieder und wieder zu putzen, dann wirkt das fast ein bisschen tapsig und wir drohen zu vergessen, dass er fünf Minuten vorher noch eine unschuldige Frau* erwürgt hat.

Also ja, es besteht die Gefahr, dass The House That Jack Built Gewalt (an Frauen*) verharmlost und Incel-Rhetoriken untermauert. Für diesen Effekt müssen die entsprechenden Zuschauer_innen allerdings schon eine ziemlich fragwürdige Disposition mitbringen. Inwiefern muss das Kino als Kunstform auf diese Menschen Rücksicht nehmen? Inwiefern muss Kunst sowieso auf irgendetwas Rücksicht nehmen? Und das führt direkt zu:

© Zentropa / Christian Geisnaes

3. Ein Künstler darf nicht an das Wohl der Menschen denken

Okay, zugegeben, dieser Gedanke ist nicht von mir. Ich habe ihn aus dem Film geklaut. Doch von vorne, denn das Folgende ist der interessanteste, aber auch zugleich der komplexeste Aspekt an The House That Jack Built.

Es scheint, als habe sich Lars von Trier hier bei sich selbst auf die Therapie-Couch gelegt, als diente dieser Film ausschließlich der Beleuchtung seines eigenen inneren Dramas. Der Narzissmus, der in diesem Unterfangen zum Ausdruck kommt, steht dem von Jack in nichts nach. Und das ist kein Zufall. Die Parallelen zwischen Regisseur und Hauptfigur sind zahlreich und intendiert. Beide nutzen sie das Leid von Frauen* für ihre Kunst, die Menschen selbst als reine, entseelte Objekte, beide erzählen sie ausgesprochen gerne Geschichten von leidenden Frauen*, beide sehen die Kunst als unanfechtbaren Selbstzweck.

Denn Jack begreift sich als Künstler und dies ist vermutlich das Verstörendste an seiner ganzen Person. Er überhöht sich selbst als gottgleiches Genie, als Schöpfer, und das ohne dabei auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, welche Konsequenzen seine „Kunst“ für die beteiligen Frauen* hat. Denn Kunst ist Kunst ist Kunst. Und ist sowieso nur dann Kunst, wenn der Künstler nicht an das Wohl der Menschen denkt. Sich frei macht von Moral und gesellschaftlichen Beschränkungen, die ja nur eine hübschere Form der Zensur sind. Und das ist übrigens keine Perspektive, die Psychopathen vorbehalten ist, sondern ein weit verbreitetes Kunstverständnis.

Und was hat das mit Lars von Trier zu tun? Eine ganze Menge. Der zitiert hier nämlich seine eigenen Filme durch Szenen, die das Leiden von Frauen* voyeuristisch ausschlachten. Zugleich bestreitet das Voice Over, derartige Kunst sei der Ausdruck unbewusster oder verdrängter Leidenschaften des Schöpfers. So weit will Lars von Trier scheinbar also doch nicht gehen. Gegen den Vorwurf aktiver Misogynie wehrt er sich, die Lust am Leid der Frau* im Namen der Kunst gesteht er jedoch ein. Doch Kunst ist eben Kunst ist Kunst ist Kunst. Und darf ergo alles. Oder doch nicht?

Jack geht in die Hölle. Und Lars von Trier damit auch. Am Ende ist der Film hier eindeutig: Es mag alles Kunst sein, aber das macht es nicht ethisch legitim. Die hochtrabenden Ausführungen Jacks, mit denen er sein krudes Kunstverständnis auf intellektuelle Weise zu rechtfertigen sucht, erinnerten mich verdächtig an gewisse Kollegen, die die Diskussion von Themen wie Sexismus, Rassismus und Misogynie im Zusammenhang mit Film ablehnen, weil die ästhetische Ebene doch die einzig wichtige und debattierwürdige sei. In The House That Jack Built wird diese Einstellung in all ihrer Fragwürdigkeit offen gelegt, denn es wird wohl niemand der Meinung sein, das Entscheidende am Mord an einer Mutter und ihrer zwei Kinder sei die ästhetische Gestaltung des Tatorts! „Don’t look at the acts, look at the works!“ fordert Jack seinen Begleiter und das Publikum auf. Doch das können wir in diesem Film nicht. Wir sehen keine Kunst. Wir sehen einen Mörder!

Gesteht Lars von Trier da eigene Fehler, eigene Schuld ein? Macht er sich hier vielleicht tatsächlich angreifbar und verletzlich? Sein Alter Ego Jack ist geradezu schockiert davon, dass er über 60 Frauen*morde begehen kann, ohne jemals erwischt zu werden. Am Ende gibt er sich nicht einmal mehr Mühe, seine Taten in aller Heimlichkeit zu verrichten.

Ich sah diesen Film kurz nach der Brett Kavanaugh Anhörung, die die Vergewaltigungsvorwürfe gegen den für den Obersten Gerichtshof nominierten Richter klären sollte. Die Beweislast war mehr als eindeutig. Dennoch ist Kavanagh weiterhin ein Kandidat für die oberste Instanz der US-amerikanischen Rechtsprechung.

Wenn Jack ohne Probleme mit einem Portemonnaie, das er aus einer gewaltsam amputierten Frauen*brust genäht hat, in einem Waffengeschäft Patronen kauft, dann ist das am Ende des Tages auch nichts anderes als wenn ein Vergewaltiger oberster Richter oder ein Mann*, der öffentlich verkündet Frauen*, ungefragt an die Genitalien zu greifen, zum Präsidenten gewählt wird. Vielleicht ist Lars von Trier am Ende genauso irritiert wie Jack und fragt sich, wann die Menschen endlich einmal aufhören Applaus zu klatschen und anfangen, ihn für seine misogynen Filme zur Verantwortung zu ziehen.

Zugegeben: So richtig viel gesamtgesellschaftlicher Subtext ist da in The House That Jack Built nicht zu finden und so steht meine Interpretation hier auf reichlich wackligen Beinen, ist unter Umständen nur eine Projektion meiner aktuellen Gedankengänge. Doch es lohnt sich meiner Meinung nach trotzdem, darüber ein wenig länger nachzudenken.

Ob nun intendiert oder nicht, The House That Jack Built formuliert für mich die Frage danach, was Kunst darf und was nicht, welche Verantwortung bei Künstler_innen liegt und welche nicht und wann auch von außen Einhalt geboten werden darf und muss. Ab wann ist Kunst nicht mehr nur Kunst, sondern rassistische, sexistische oder misogyne Propaganda? Ab wann ist Kunst Gewalt?

Völlig überraschend spielt Lars von Trier damit meiner Arbeit in die Hände, denn dies sind ja genau die Fragen, mit denen ich mich, mit feministischem Schwerpunkt, beschäftige und die nach wie vor von einigen Kolleg_innen als illegitime Abart der Filmkritik belächelt, ignoriert oder auch öffentlich diskreditiert werden. Völlig überraschend fürchte ich an dieser Stelle also sagen zu müssen: Ich halte The House That Jack Built tatsächlich für einen interessanten Film!

Nachsatz:

Ein interessanter Film ist nicht automatisch ein guter Film. Es gibt ausreichend an The House That Jack Built zu kritisieren, ausreichend Gründe sich zu ärgern und zu echauffieren und ich hoffe, dass ich auch das in meinem Text vermitteln konnte. Zu allererst lässt sich natürlich die völlig legitime Frage formulieren, ob wir solch einen Film denn unbedingt brauchen, selbst wenn er die oben genannten Aspekte thematisiert. Außerdem empfinde ich Lars von Triers neuesten Streich rein filmisch nicht annähernd als so gelungen wie viele andere seiner Werke. Gleichzeitig aber sehe ich hier doch mehr als nur Misogynie, Voyeurismus und Torture Porn, nämlich viele Anknüpfungspunkte für unbequeme, weil selbstkritische Überlegungen – auch oder vielleicht insbesondere für die Filmkritik.

Sophie Charlotte Rieger
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