Berlinale 2018: Styx

Ein Mensch, ein Boot, ein Ozean – das sind die Zutaten für einen klassischen Abenteuerfilm, in dem sich ein_e Held_in gegen die Gewalt der Natur bewähren muss, um zu überleben. Kein Wunder, dass für dieses spezielle Motiv in der Regel männliche* Hauptfiguren erschaffen werden, denn in unserem sexistischen Schubladendenken liegt es nahe, dass nur ein Mann* sich einer solch riskanten Reise aussetzen würde.

Bis jetzt. Denn Styx von Wolfgang Fischer platziert auf seiner einsamen Segelyacht im Atlantik eine Frau*. Rike (Susanne Wolff) ist Ärztin und nutzt ihren Urlaub, um sich einen Traum zu erfüllen: Alleine möchte sie zu einer entlegenen Insel reisen und dort das Erbe von Charles Darwin erkunden. Schon dieses Vorhaben ist metaphorisch: Das Überleben des Stärkeren wird in dieser Geschichte noch eine Rolle spielen und zwar nicht nur in Hinblick auf Rikes „kleines“ Abenteuer. Styx ist in der griechischen Mythologie übrigens der Fluss, der das Reich der Lebenden von dem der Toten trennt. Aber entscheidet, wie von Darwin postuliert, wirklich nur die eigene Stärke darüber, auf welcher Seite des „Flusses“ ein Mensch an Land gehen darf?

© Benedict Neuenfels

Zugleich einschüchternd wie auch idyllisch sind die Bilder des kleinen Bootes im weiten Ozean. Die Heldin genießt die Einsamkeit auf dem Wasser, während wir uns als Zuschauer_innen bereits gruseln. Weil wir doch wissen, dass diese Geschichte nicht ewig so weitergehen kann, dass die ruhige See irgendwann gefährliche Wellen schlagen wird. Und genauso kommt es: Rike gerät in ein Unwetter. Doch sie ist vorbereitet und trotzt dem Sturm in vollendeter Ruhe und Professionalität – nichtsahnend, dass die größere Herausforderung noch vor ihr liegt.

Am Morgen nach dem Unwetter hört Rike Hilferufe. Mit dem Fernglas entdeckt sie ein überladenes Fischerboot, auf dem Geflüchtete in Seenot geraten sind. Was tun? Ihr Funkspruch an die Küstenwache zeigt keinen Erfolg. Sie solle sich keinesfalls einmischen ist die Anweisung. Aber wie sich nicht einmischen, wenn mitten in der gnadenlosen Einsamkeit des weiten Ozeans eine Gruppe von Menschen einsam und allein um ihr Überleben kämpft?

Styx ist beklemmend. Da ist einerseits die Bedrohung des Wassers als Ort ohne Bezugspunkte, ohne Halt, wie wir ihn aus Open Water kennen. Da ist andererseits die Bedrohung durch Unwetter und ein sinkendes Schiff wie in All Is Lost. Und mitten in diese ohnehin lebensbedrohliche Situation platziert Wolfgang Fischer die große Frage: Was würdest Du tun? Sollte Rike den Menschen helfen? Kann sie es überhaupt oder wird ihre Yacht überrannt und ebenfalls sinken? Wieso eilt niemand zur Hilfe?

Trotz des begrenzten Settings und kleinen Casts weiß Styx von der ersten bis zur letzten Minute mitzureißen. Gemeinsam mit Rike versuchen wir die Situation zu begreifen und uns zu verorten. Wir erleben mit ihr die Angst um das eigene Wohl wie auch die Wut gegen tatenlose Unbekannte und ein Gefühl von Schuld. Wir wissen, wie viele Menschen auf der Flucht im Mittelmeer sterben. Und was haben wir, die wir hier im Kino sitzen, getan? Sind wir nicht auch der unterlassenen Hilfeleistung schuldig?

© Benedict Neuenfels

Feministische Intervention: Spielt Geschlecht hier eine Rolle?

Mit dieser ungewöhnlich langen Vorrede zu einer feministischen Perspektive auf den Film möchte ich Styx zunächst unbedingt als sehenswerten Film charakterisieren, trotz der folgenden Überlegungen. Denn natürlich habe ich mir darüber Gedanken gemacht, was es heißt, für diese Geschichte eine Heldin zu wählen.

Auf den ersten Blick ist Rike eine jener Frauen*figuren, auf die wir lange gewartet haben. Ihre Geschlecht spielt für die Handlung eine untergeordnete Rolle. Sie agiert auf ihrer Yacht mit derselben selbstbewussten Professionalität wie beispielsweise Robert Redford in All Is Lost. Sie hat die Situation im Griff, verliert auch in brenzligen Situationen nicht die Fassung und genießt die Einsamkeit auf dem Meer in vollen Zügen. Sie rennt nicht davon, sondern auf etwas zu. Sie verwirklicht sich einen Traum.

Bei genauerer Hinsicht aber kalkuliert der Film doch mit stereotypen Annahmen über Geschlecht. Denn dies ist keine Survival-Story wie All Is Lost oder auch Der Sturm, sondern ein Sozialdrama. Der Überlebenskampf Rikes im Unwetter ist im Grunde keiner, die Naturgewalten sind nicht annähernd so brutal wie sie in Filmen mit männlichem* Cast wären. Insofern erhält sie auch keine Gelegenheit sich in vergleichbarer Weise zu bewährend und ihren Mut unter Beweis zu stellen. Das Überleben der „Stärkeren“ basiert in Styx nicht auf der besseren oder schlechteren Anpassung an die Natur und ihre Kräfte. Wer lebt und wer stirbt entscheidet sich anhand unsichtbarer gesellschaftspolitischer Grenzziehungen.

© Benedict Neuenfels

In diesem Kontext eignet sich eine Frauen*figur deshalb besser für den anvisierten inneren Konflikt, weil Mitgefühl und soziale Verantwortung stereotyp weibliche* Eigenschaften sind. Natürlich fährt Rike nicht einfach weiter, so wie es die Küstenwache von ihr verlangt. Doch dass sie sich entgegen der Anweisungen in das Geschehen einmischt, wird weniger mit ihrem Charakter, ihrer Persönlichkeit erklärt, als mit der sexistischen Annahme, dass Frauen* nun einmal so seien.

Es ließe sich argumentieren, dass der Beruf der Heldin ihr Handeln erklärt: Als Ärztin hat sie geschworen, Leben zu retten. Das ist jedoch ein wenig zu kurz gedacht, zumal wir nur am Anfang einen sehr knappen Einblick in ihren beruflichen Alltag erhaschen. Wie viele Vorannahmen wir in das Verständnis der Figur einfließen lassen, wird durch einen hypothetischen Gender-Tausch deutlich. Wie sähe der Film aus, wenn Rike ein Frederik wäre?

Vermutlich wäre der Sturm gefährlicher, wären die Wellen höher gewesen. Vor allem aber hätte die Erklärung für sein Engagement ausgefeilter sein müssen, um zu überzeugen. Einen Mann* hätten wir als weniger fragil empfunden, die Möglichkeit, von den Geflüchteten auf dem eigenen Boot überrannt zu werden als deutlich weniger bedrohlich. Rike muss eine Frau* sein, weil sowohl die Logik als auch die Spannung der Geschichte auf Geschlechterstereotypen aufbauen.

Aber noch einmal: Das macht Styx nicht zu einem schlechten Film, vielleicht sogar eher zu einem besseren, der uns auf eigene Vorurteile zurückwirft. Denn im Kern geht es auch in Styx um Vorurteile, um Ungleichbehandlung – aber eben nicht in Hinblick auf das Geschlecht, sondern auf die Herkunft der Menschen. Es ist nicht die Stärke, die über Leben und Tod entscheidet. Der Kampf ums Überleben ist schon entschieden, bevor er ausgefochten wird. Und zwar weder durch fairen Wettbewerb noch durch eine weise höhere Entität, sondern durch uns, unsere kolonialen Macht- und Denkstrukturen und unsere überhebliche Ignoranz. Das macht Styx zu einem sehr unbequemen, weil aufrüttelnden Film: Hier können wir nicht wegsehen.

Screenings bei der Berlinale 2018

Kinostart: Sommer 2018

Sophie Charlotte Rieger
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