Berlinale 2017: Tiger Girl

Eine neue Zeit bricht an. Eine Gute. Eine Zeit, in der das deutsche Kino nach neuen Frauen*figuren sucht und sie findet. Eine Zeit, in der junge Filmemacher_innen es sich zur Aufgabe machen, eben jene neuen Frauen*figuren zu inszenieren, sich von Klischees zu lösen und mutig, ja, provokant gar, in einer „mitten in die Fresse“-Manier Maskulinisten heftigst vor den Kopf zu stoßen. „Nimm das“, schreit auch Jakob Lass mit seinem Film Tiger Girl den Machos dieser Welt entgegen, wenn er seine Heldinnen austeilen lässt – nicht nur verbal, sondern tatkräftig. Mitten in die Fresse rein. Im Wahrsten Sinne des Wortes.

© Constantin Film / Fogma

Ein blamables Bocksprung-Desaster versperrt Maggie den Weg in die Polizeischule. Doch statt den Kopf in den Sand zu stecken, schreibt sie sich für die Fortbildung zum Sicherheitsdienst ein, sitzt zwischen den muskelbepackten Mitschülern, lauscht dem noch muskelbepackteren Ausbilder und lässt sich von diesem Setting nicht einschüchtern. Doch so richtig taff ist Maggie eigentlich nicht, eher bemüht und sich ihrer vermeintlich benachteiligten Stellung mehr als bewusst.

Doch dann tritt Tiger in ihr Leben, rettet sie gleich zweimal vor aufdringlichen Männern* und verwickelt die Ordnungshüterin in spe in ihre erste Schlägerei. Zugleich beeindruckt von der neuen rotzfrechen Freundin und beflügelt von dem Gefühl, endlich einmal nicht die Schwächere zu sein, beginnt Maggie ihre Transformation zu Vanilla, einer Rebellin, die ihre Security-Uniform dazu benutzt, eben jene Macht auszuüben, die ihr bislang immer verwehrt blieb.

© Constantin Film / Fogma

Die Uniform ist wie ein magischer Superhelden-Anzug, denn sie verleiht Vanilla und Tiger geradezu übersinnliche Kräfte. In Situationen, in denen sie als Frauen* niemals ernst genommen würden, begegnen ihnen die Menschen plötzlich mit demütigem Respekt. Durch den Effekt der Uniform wird der Normalzustand plötzlich offensichtlich: Tiger und Vanilla besitzen diese Macht als Frauen* nicht. Ohne die Uniform wird von ihnen Höflichkeit und Freundlichkeit erwartet. Die sadistische Strenge, mit der sie als Security-Damen* auftreten, riefe ohne die „Verkleidung“ wohl eher nervöses Kichern hervor.

„Höflichkeit ist Gewalt gegen Dich selbst“, erklärt Tiger und lädt Vanilla dazu ein, eben jene Gewalt zu externalisieren. Was als Spiel beginnt, eskaliert zunehmend. Aus Gaunereien und zugegebener Maßen fiesen Streichen, die sich vornehmlich, aber nicht ausschließlich, gegen Männer* richten, werden schließlich Erniedrigungen und Vandalismus zum Selbstweck. Tiger hat die Büchse der Pandora geöffnet und was nun zu Tage tritt, übersteigt all ihre Erwartungen.

Was bringt aber eine junge Frau* dazu, Passant_innen unvermittelt ins Gesicht zu schlagen, triumphierend mit einer „scheiß egal“-Einstellung die eigene Ausbildung zu boykottieren und selbst enge Freunde mit Anlauf vor den Kopf zu stoßen?

© Constantin Film / Fogma

Die große Stärke von Tiger Girl liegt im Fehlen einer Antwort. Jakob Lass gibt seinen Held_innnen keinen biographischen Hintergrund. Sie sind wie sie sind. Dadurch vermeidet er geschickt, Vanilla oder auch Tiger in eine Opferposition zu rücken. Da ist kein väterlicher Missbrauch, keine anhaltende sexistische Erniedrigung und auch sonst kein Trauma, das ihr Verhalten rechtfertigen würde. Wir sollen Vanilla nicht bemitleiden. Wir dürfen sie unsympathisch finden. Vielleicht sollen wir das sogar! Tiger wiederum wandelt sich zunehmend zur moralischen Stimme und erweitert damit das Spektrum der Frauen*figuren des Films um eine weitere Facette. Die Unterschiede sind graduell, die Figuren komplex. Es gibt keine einfachen Erklärungen, Plattitüden und Klischees.

Die Vermeidung der Opferrolle hat System. Jakob Lass inszeniert gleich mehrere knallharte Frauen*, die ordentlich zulangen, oft völlig unvermittelt. Das wirkt zunächst befremdlich, ist aber im Grunde die konsequente Dekonstruktion von tradierten Geschlechterrollen. Wären Vanilla und ihre Kontrahentinnen männlich*, würden uns die heftigen Schlägereien wohl kaum verwundern. Bei Jakob Lass sind die Frauen* Täterinnen statt Opfer. Sie wehren sich – mal mehr, mal weniger effektiv, sie siegen und unterliegen. Aber: Eine Verliererin ist kein Opfer, sondern eine Kämpferin!

© Constantin Film / Fogma

Vanilla schießt weit über das Ziel des Empowerment hinaus. Sie begeht Fehler und setzt unsere Sympathie aufs Spiel. Ja, vielleicht ist sie ein „schlechter Mensch“, vielleicht hat sie eine sadistische Ader, vielleicht hat sie Freude an Zerstörung und Gewalt. So fucking what? Tiger Girl ist wie der Film zum Slogan „Stop telling women to smile“. Die Heldin ist nur sehr begrenzt eine Identifikationsfigur und ganz sicher kein Vorbild. Aber sie ist die wandelnde Erlaubnis zur Eskalation. Menschen in die Fresse zu hauen, ist nie geil. Zerstörungswut ist nie geil. Nie! Auch nicht, wenn sie von Männern* ausgeht. Vanilla ist nicht mehr oder weniger „cool“ als die besoffenen Kerle, die ihr zu Beginn des Films in der nächtlich-verlassenen U-Bahn-Station auf die Pelle rücken. Das bedeutet im Umkehrschluss aber eben auch, dass Gewalt kein Zeichen von Männlichkeit ist, keine positives weil kraftvolles Charaktermerkmal. Jakob Lass will nicht zeigen, dass gewaltbereite Frauen* cool sind, sondern dass gewaltbereite Frauen* genauso scheiße sind wie gewaltbereite Männer*. Und genau darin liegt der Befreiungsschlag.

Tiger Girl legt an all seine Charaktere, unabhängig von ihrem sozialen oder biologischen Geschlecht, dieselben Maßstäbe an, verleiht ihnen denselben Handlungsspielraum, aber auch dieselbe moralische Fallhöhe. Das Publikum darf letztlich selbst entscheiden, ob es Vanillas Verhalten nun cool oder voll daneben findet, aber welches Urteil auch gefällt werden mag, es wird sicher weniger mit dem Geschlecht der Heldinnen und mehr mit der individuellen Einstellung der Zuschauer_innen zu zivilem Ungehorsam zu tun haben.

Ich sehne mich schon lange nach Frauen*figuren, die so richtig scheiße sind, richtig scheiße sein dürfen, assozial, gemein, sadistisch, einfach nur zum Kotzen. Tiger Girl ist ein großer Schritt in die Richtung. Danke, Jakob Lass!

Kinostart: 6. April 2017

Sophie Charlotte Rieger
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