Woche der Kritik 2016: Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen

Zwei Frauen und eine gemeinsame Reise – so ließe sich nicht nur der Inhalt, sondern auch der Entstehungsprozess von Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen beschreiben, denn die künstlerische „Reise“ der Filmproduktion entstand unter der Regie gleich zweier Frauen: Marita Neher und Tatjana Turanskyj.

Pur und eigenwillig, das sind die beiden Adjektive, mit der sich Neher und Turanskyjs Film am besten beschreiben lässt. In natürlichen, für das mediterrane Griechenland überraschend tristen Bildern erzählen die Regisseurinnen in gemächlichem Tempo die kleine Geschichte einer Zweckgemeinschaft zweier Frauen. Viele Passagen wirken dokumentarisch und sind es vermutlich auch, doch der Film will darüber keine klare Aussage geben. Die Zuschauer_innen können nur erraten, wer hier schauspielert und wer aus seinem wahren Leben erzählt. Aber Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen.

Die beiden Hauptfiguren, im Grunde die einzigen dieser Geschichte, fahren mit dem Auto durch ein ungeschöntes Griechenland auf der Suche nach Abschiebegefängnissen für Geflüchtete. Die Journalistin (Nina Kronjäger) möchte über die Flüchtlingskrise berichten, die Anhalterin und Aktivistin (Anna Schmidt) möchte sich tatkräftig einbringen. Aber irgendwie gelingt weder das eine noch das andere. Ohne Griechischkenntnisse versuchen sich die beiden Frauen durchzufragen, was auf Grund der Sprachprobleme ein ums andere Mal scheitern muss. Aber Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen!

© Marita Neher und Tatjana Turanskyj

© Marita Neher und Tatjana Turanskyj

Auffallend ist auch das zum Teil spröde Schauspiel einer der Hauptfiguren. Die Journalistin, deren Namen wir ebenso wenig erfahren wie den ihrer Mitfahrerin, wirkt steif, ihre Sprache gestelzt. Die natürliche Körpersprache steht zu diesem Entfremdungseffekt in starkem Kontrast, was immer wieder zu Irritationen führt. Anders verhält es sich mit der Mitfahrerin, einer jungen Aktivistin. Klingen die Worte der Journalistin stets ein wenig aufgesagt, scheint die Aktivistin direkt aus dem Leben gegriffen. Insgesamt dienen die Dialoge der beiden Frauen zu offensichtlich der Vermittlung von Hintergrundinformationen über die Flüchtlingskrise. Das Fuchteln mit dem Zaunpfahl, das wohl dem Publikum Thema und Botschaft des Films vermitteln soll, wirkt in der subtilen Inszenierung deplatziert. Aber Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen.

Was also ist die Botschaft? Die beiden Frauen stehen jeweils für eine privilegierte Gruppe, die sich von außen und aus einer sicheren bequemen Position heraus, mit der Flüchtlingskrise beschäftigt. Die Aktivistin muss durch die Unterstützung ihrer Eltern keine Erwerbstätigkeit aufnehmen und die Journalistin ist schon allein auf Grund ihres Berufs eine außenstehende Beobachterin, die bequem im Auto durchs Land reist und in Hotels nächtigt. Im Grunde sind beide nicht in der Lage, sich dem Thema wirklich zu nähern. Sie bleiben Randfiguren eines Konflikts, zu dem sie keinen echten Zugang finden. Aber Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen.

„Du profitierst von einem System, das Du abschaffen willst!“ wirft die Journalistin der Aktivistin vor, weil letztere zwar kostenlos in einer Eigentumswohnung der Eltern wohnt, die freien Zimmer aber lieber an Student_innen vermietet als mittellose Flüchtlinge aufzunehmen. Ist das aktivistisch genug? Und was heißt überhaupt aktivistisch? Die Journalistin wiederum macht auf ein anderes Problem aufmerksam, nämlich auf die Umstrukturierung der Medien, die statt festangestellter Journalistin_innen und Reporter_innen, lieber Praktikant_innen anstellen, die im Grunde durch ihre Eltern, mit Sicherheit aber nicht durch ihren Arbeitgeber finanziert werden. Auch an dieser Stelle nähren die Privilegierten ein System, das anderen oder gar ihnen selbst zum Nachteil wird. Welche Wege aus dieser Misere führen, bleibt eine offene Fragen. Es ist Marita Neher und Tatjana Turanskyj offensichtlich weniger an Antworten denn an der Sensibilisierung für gesellschaftliche Probleme gelegen. Vielleicht kennen sie die Antworten auf die durch ihren Film gestellten Fragen selbst nicht. Aber Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen!

Sophie Charlotte Rieger
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