FFHH 2016: Elle – Von der Inszenierung sexualisierter Gewalt

Stöhnen und Ächzen. Ein körperlicher Akt findet statt, doch ob es sich um Gewalt oder Sexualität handelt ist nicht eindeutig zu beurteilen. Das Gesicht einer Katze, ungerührt von den Ereignissen, eine unbeteiligte Beobachterin. Dann der Gegenschuss in ihre Perspektive hinein: eine Frau am Boden des Wohnzimmers liegend, blutige Oberschenkel sind im Anschnitt erkennbar, ein maskierter Mann flieht.

Ich bin mir während des Screenings zu Elle relativ lange unsicher, ob hier eine Vergewaltigung stattgefunden hat. Das Bild des Katzengesichts hat im Publikum für Gelächter gesorgt und das Verhalten der Frau, die von ihr ausgestrahlte Gleichgültigkeit, die sich durch die folgenden Szenen zieht, deuten zunächst nicht auf das Erleben eine Gewalttat hin. Erst als sie für einen HIV-Test zum Arzt geht, habe ich Gewissheit: Michèle (Isabelle Huppert) ist von einem maskierten Mann, der in ihr Haus eingedrungen ist, vergewaltigt worden.

Die Darstellung von sexualisierter Gewalt im Film ist ein heikles Thema. Ab welchem Punkt wird das Opfer zum Anschauungsobjekt des elendsvoyeuristischen Zuschauer_innenauges? Wann trägt das visuelle Auserzählen einer Vergewaltigung wirklich zur Handlung bei? Wie unterscheiden sich andere Formen von Gewalt von sexualisierter Gewalt? Und kann ich einen handwerklich gelungenen Film offiziell als gut befinden, wenn ich doch der Meinung bin, er nähre Mythen einer Rape Culture? All diese Fragen schießen mir bei Paul Verhoevens Elle durch den Kopf. Und zwar immer wieder.

Auch im Kino braucht es Opferschutz

Einerseits scheint der Film sich sehr bewusst mit einer Vergewaltigungskultur auseinanderzusetzen. Michèle arbeitet in der Computerspieleindustrie und wird im Büro mit einem Game-Szenario konfrontiert, das Elemente des Tentacle Porns verwendet, um eine Form von sexualisierter Gewalt darzustellen – zur Unterhaltung der Spielenden. Damit stellt Verhoeven einen direkten Bezug zur Diskussion über Frauen*figuren und die Darstellung von (sexualisierter) Gewalt in Videospielen her und gibt dem singulären Vorfall von Michèles Vergewaltigung einen größeren gesellschaftlichen Kontext.

Zudem legt Verhoeven zu Beginn seines Films einen lobenswerten Opferschutz an den Tag, indem er darauf verzichtet, Michèles Gewalterfahrung visuell auszuerzählen. Die Katze bleibt zunächst die einzige Zeugin des einleitenden Tathergangs, wir Zuschauer_innen können die Vorgänge nur erahnen. Die indirekte Sichtbarmachung der körperlichen und seelischen Verletzung des Opfers, beispielsweise durch ein blutrotes Dreieck im Badeschaum, ist zugleich kraft- wie auch respektvoll.

© MFA

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Doch Verhoeven bleibt dieser Linie bedauerlicher Weise nicht treu, denn später wird die Vergewaltigung Michèles in einer Rückblende dann doch auserzählt, ohne dass diese Szene einen Mehrwert für die Geschichte darstellte. Und nicht nur das: Auch die subtile Andeutung einer Vergewaltigungskultur in der Gaming-Industrie muss durch eine explizite Sichtbarmachung noch mal den Voyeurismus des Kinopublikums schüren, wenn die Spielfigur Michèles Gesicht trägt und sich eine Tentakel nicht mehr in den Kopf, sondern zwischen die Beine des Opfers schiebt.

Rape Games vs. Rape Culture

Der Umgang mit sexualisierter Gewalt in Elle ist nicht zu Ende gedacht. Der misogyne Voyeurismus, der sich am geschundenen Körper der Frau* erregt, erfährt zu wenig Brechung, um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema zu fördern. Problematisch ist auch die Entwicklung der Heldin, die mehr und mehr eine perverse Befriedigung aus erzwungenem Geschlechtsverkehr generiert. Dabei – und das ist ultimativ wichtig – ist gegen Rape Games an sich nichts einzuwenden, wenn denn alle Beteiligten ihr Einverständnis gegeben haben und dabei Lust empfinden. Indem Verhoeven jedoch mit einer Vergewaltigung einsteigt und darauf aufbauend einen Fetisch thematisiert, verwischt er die eigentlich simplen, weil klaren Grenzen des sexuellen Konsens und droht damit den „Komm schon Baby, Du willst es doch auch“-Mythos zu nähren. Das ungefragte Eindringen in die Privatsphäre eines Menschen und das Verletzen der körperlichen Integrität aber ist kein Spiel, sondern ein blanker Akt der Gewalt. Es zeugt von einem leichtfertigen Umgang mit dem Thema, dass sich Paul Verhoeven in seinem Film viel zu wenig Raum nimmt, über die Unterscheidung zwischen Fetisch und Verbrechen zu reflektieren.

© MFA

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Warum Gewalt nicht gleich Gewalt ist

Der Hintergrund der Hauptfigur, ein brutales Familiendrama, legt nahe, dass es dem Filmemacher hier nicht ausschließlich um Vergewaltigung, sondern um Gewalt im Allgemeinen geht. Das rechtfertigt zum einen jedoch nicht das Nähren von Vergewaltigungsmythen. Zum anderen ist sexualisierte Gewalt insofern von beispielsweise jener in Starship Troopers zu unterscheiden, als dass es sich bei ersterer um eine gesellschaftliche Struktur, ein Machtungleichgewicht handelt, das viel komplexere Auswirkungen hat als „nur“ den singulären Vergewaltigungsfall. Sexualisierte Gewalt ist auch Unterdrückung, ist auch Machtmissbrauch. Dies einfach nur als Teil eines größeren Diskurses über das Böse und Gute im Menschen zu verhandeln, ist nicht nur zu kurz gedacht, sondern auch respektlos jenem Teil der Menschheit gegenüber, der auch heute noch in einer unterlegenen gesellschaftlichen Position struktureller Gewalt ausgesetzt ist.

An zu vielen Stellen verharmlost Elle die Gewalttat, die Lesart des Endes als Rape-Revenge-Inszenierung bleibt zu ambivalent. Trotz der Einbettung in den Kontext der Spieleindustrie und der Konstruktion einer komplexen Familiengeschichte um Gewalt, Trauma und Vergebung, kann Vergewaltigung hier fataler Weise als legitimer Fetisch verstanden werden.

Mit großer Sicherheit geht es Paul Verhoeven nicht darum, sexualisierte Gewalt zu verharmlosen. Doch worum geht es ihm dann? Weder die ausagierten Szenen noch das Thema Vergewaltigung als solches ist zwingend notwendig, um über die Möglichkeit oder Notwendigkeit von Vergebung zu reflektieren, so wie es Michèles Familiengeschichte nahelegt. Auch das Thema Voyeurismus, das Elle uns durch die unangenehme komödiantische Brechung der bedrückenden Handlung vor Augen führt, durch unsere Bereitschaft, selbst in Anbetracht einer Geschichte von Gewalt und Missbrauch noch über Situationskomik zu lachen, käme ohne Rückgriff auf Rape-Culture-Mythen aus. Das Psychogramm einer Frau wiederum, die aus einer Gewalterfahrung heraus einen Fetisch entwickelt und sich damit als sexuelle Akteurin emanzipiert, kann und MUSS ohne das Verschwimmen von Fetisch und Vergewaltigung erzählt werden.

Von der Aufgabe der Filmkritik

Der männliche Blick, nicht im Sinne Mulveys, sondern einer gesellschaftlich bedingten Perspektive, ist in Elle deutlich spürbar. Eine Frau*, da bin ich sicher, hätte diese Geschichte sensibler und eindeutiger erzählt. Auch wenn Verhoevens Inszenierung in vielerlei Hinsicht handwerklich begeistert, ist Elle am Ende des Tages aus meiner Sicht kein guter Film. So wie Birth Of A Nation rückblickend zwar große filmhistorische Relevanz besitzt, zu seiner Zeit aber ein verabscheuungswürdig rassistisches Werk darstellte, muss auch Elle trotz aller Qualitäten im aktuellen gesellschaftlichen Kontext genauestens hinterfragt werden. Entgegen all jener Stimmen, die mich wiederholt dazu auffordern, werkimmanent zu urteilen, statt zu kontextualisieren, ist es mir an dieser Stelle besonders wichtig zu betonen: Filme wie Elle kritisch zu hinterfragen ist definitiv eine Aufgabe der Filmkritik – und zwar nicht nur der feministischen.

Sophie Charlotte Rieger
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