FFF 2016: Our Mother (D’une pierre deux coups)

Manchmal passt ein Film einfach wie die Faust aufs Auge, trifft mitten ins Ziel, hinein in einen aktuellen gesellschaftlichen Diskurs. So verhält es sich mit Our Mother (D’une pierre deux coups) von Fejria Deliba, der diese Woche das Favorites Film Festival in Berlin eröffnete. Seine Premiere feierte dieses Langfilmdebut bereits Anfang des Jahres auf dem Angers Film Festival in Frankreich, ersponnen und gedreht wurde er dementsprechend in noch weiterer Vergangenheit und trotzdem lief er nun in Berlin zum genau richtigen Zeitpunkt.

Our Mother (D’une pierre deux coups) erzählt die Geschichte einer algerischen, in Frankreich lebenden elf-fachen Mutter und ihrem plötzlichen Ausbruch aus der häuslichen Sphäre. Als Analphabetin ist Zayane (Milouda Chaqiq) stets auf die Hilfe anderer angewiesen, diese aber auch auf sie. Zumindest ihre Kinder organisieren ihren Alltag noch immer zum Großteil mit der Unterstützung der Mutter, die zuverlässig Enkel betreut und immer einen vollen Kühlschrank bereit hält. Umso größer der Schock bei ihrer Familie als Zayane verschwindet und nur eine von der Nachbarin verfasste Notiz zurücklässt.

© Haut et Court

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Wovon ihre Kinder nichts wissen, die Kinozuschauer_innen aber schon, ist eine Todesanzeige mit anhängender Mitteilung, dass der Verstorbene Zayane eine Kiste mit persönlichen Habseligkeiten überlassen habe. Während diese mit ihrer betreuenden Sozialarbeitenden Amel (Brigitte Roüaneinen kleinen Roadtrip unternimmt, sammeln sich in ihrer Wohnung Söhne und Töchter um ein verwirrendes Videoband, dass ihre Mutter als junges Mädchen zeigt – mit einem fremden Mann.

Our Mother (D’une pierre deux coups), so erklärte Regisseurin Fejria Deliba, erzählt von einer Mutter, die zur Frau* wird. In Zayanes Vergangenheit schlummert ein streng gehütetes Geheimnis, das sich mit ihrer Mutterrolle auf den ersten Blick nur schwer vereinbaren lässt. Aber weshalb eigentlich? Können Mütter nicht zugleich auch Frauen* sein, Menschen mit Makeln, mit Illusionen, mit Geheimnissen? Auf eine völlig andere Weise verhandelt Fejria Deliba hier im Grunde dasselbe Thema wie Bad Moms, nämlich die Dekonstruktion eines überlebensgroßen Mutterbildes, das durch Perfektion, Makellosigkeit, aber eben auch Asexualität besticht. Das fordert nicht nur Zayanes elf Kinder gehörig heraus, sondern auch die Zuschauer_innen. Aus der eigenen Irritation folgt schließlich die Erkenntnis unseres limitierten und realitätsfernen Frauen*- und Mutterbildes.

© Haut et Court

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Ein weiterer Aspekt von Delibas Film ist die Kopftuchdiskussion, zumindest im weitesten Sinne. Zayane ist eine traditionell denkende Muslima, die den Weg in Ehe und Mutterschaft gefunden hat, weil man das eben so macht, eine Frau*, die dem Leben nichts abverlangt und sich in vollkommender Demut in die Mutterrolle ergibt. Ihre Töchter könnten unterschiedlicher nicht sein: die eine im knallpinken Minikleid, die andere mit Kopftuch, die dritte burschikos, die vierte elegant, die fünfte austauschbar-normal. Fajria Deliba stellt all diese Frauen*typen nebeneinander, ohne eine Hierarchie aufzumachen oder Urteile zu fällen. Damit zeigt sie eine immense Bandbreite, die mit den sich aktuell verfestigenden und diskriminierenden Verallgemeinerungen bricht: Nicht alle Muslima tragen Kopftuch und nicht alle Frauen, die Kopftuch tragen sind Muslima. Am wichtigsten aber ist: Ob Kopftuch oder nicht, darf verdammt noch mal jede_r selbst entscheiden! Zugleich vollzieht sich parallel zu Zayanes Reise in die Vergangenheit bei ihrer jüngsten Tochter Leyla (Myriam Bella) ein Emanzipationsprozess, der sich auch – aber nicht nur – im schrittweisen Ablegen ihrer frommen Kleidung ausdrückt. Am Ende ist es ausgerechnet jene Person, die am traditionellsten, konservativsten, angepasstesten erschien, die für ihre Mutter das Recht auf Liebe, Sexualität und Freiheit einfordert.

Die Parallele zwischen Zayane und Leyla unterstreicht Deliba mit einer visuellen Doppelung. Myriam Bella spielt nicht nur Leyla, sondern tritt auch als Zayanes jugendliches Ich in den Videobändern auf. Leyla schaut sich im Grunde also selbst zu, sieht ihr eigenes unbeschwertes, freies Ich auf der Leinwand strahlen. Somit erlaubt sie schließlich nicht nur Zayane (sexuelle) Selbstbestimmung, sondern auch sich selbst!

© Haut et Court

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Von der Doppellrolle Myriam Bellas abgesehen, ist Our Mother (D’une pierre deux coups) leider arm an Ideen. Handwerklich hat der Film nicht viel zu bieten, bedient sich einer dokumentarisch geführten Handkamera, findet aber darüber hinaus keinen Weg, seinen Inhalt bzw. seine Botschaft audiovisuell erfahrbar zu machen. Das stärkste Element der Inszenierung ist Hauptdarstellerin Milouda Chaqiq. Selbst bis ins hohe Alter Analphabetin hat die Marokkanerin nun unter dem Künstlernamen Tata Milouda die französische Poetry Slam Szene erobert. Von ihrer beeindruckenden Bühnenpräsenz (ein Blick auf YouTube lohnt sich auch ohne Französischkenntnisse) ist in ihrer Darstellung der Zayane jedoch nichts zu spüren. Sie taucht vollkommen in die Rolle des demütigen Mütterchens ein – und das ohne Schauspielausbildung. Milouda Chaqiq ist auf so vielen Ebenen die absolute Heldin dieses Films.

Sophie Charlotte Rieger
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