Die Geträumten

Es ist eine der ganz großen Liebesgeschichten, die das Leben schreibt: Ingeborg Bachmann und Paul Celan, zwei Künstler_innenseelen, die einander begegnen wie die Igel: Kommen sie sich zu nah, pieken sie sich gegenseitig. Daraus entspinnt sich ein Drama über Jahrzehnte, poetische Briefwechsel und das gesamte Kaleidoskop der Gefühle von tiefer Liebe bis hin zu aus Ablehnung geschöpfter Abscheu. In ihrem filmischen Experiment Die Geträumten versucht Ruth Beckermann diese Geschichte einmal ganz anders zu erzählen, ohne Kostüm und Ausstattung, reduziert auf das eigentlich Wichtige: gefühlte Worte.

Am Anfang war das Wort. Das stammt aus der Bibel, die mit Ingeborg Bachmann und Paul Celan auf den ersten Blick wenig zu tun hat. Bis auf eines: Auch aus den Worten der beiden Literat_innen entsteht eine Welt, und um diese so unverfälscht wie möglich zu transportieren, spart Ruth Beckermann an fast allem, was hiervon ablenken könnte. Ihre Darstellenden, Anja Plaschg und Laurence Rupp, stehen in einem großen Tonstudio vor ihren Mikrophonen und sprechen die Briefe von Bachmann und Celan einander zu. Durch die Größe des Raums fällt die Nähe der Sprecher_innen schnell ins Auge: Indem sie Plaschg und Rupp so wenig Distanz zueinander erlaubt, erzeugt die Regisseurin eine fühlbare Spannung, die verschiedene Emotionen zu transportieren im Stande ist. Close-Ups auf die Gesichter ermöglichen die Wahrnehmung eines subtilen Minenspiels, das lediglich die in den Briefen formulierten Gefühle spiegelt, diese aber nicht tatsächlich performiert wie es im klassischer Schauspiel der Fall wäre.

© Grandfilm

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Die fiktive Ebene ergänzt Ruth Beckermann durch eine dokumentarische, vielleicht auch nur schein-dokumentarische, die einen Blick hinter die Kulissen fingiert. Anja Plaschg und Laurence Rupp in der Raucherpause, mal alleine, mal zu zweit, im Meta-Gespräch über ihre Rollen, einem Hörfunkorchester lauschend oder auch einfach nur entspannend auf dem Boden liegend. Doch die beiden Darstellenden werden nie ganz zu Anja Plaschg und Laurence Rupp, die Aura von Bachmann und Celan haftet ihnen an wie ein Kaugummi an der Schuhsohle – nicht sichtbar, aber spürbar.

Nicht zuletzt ermöglichen diese Zäsuren auch ein Aufatmen des Publikums. Die vorgetragenen Texte sind mitnichten einfacher Natur, oft wünscht sich eines, noch einmal zurückspulen und besser zuhören zu können. Erfreulicher Weise aber handelt es sich bei Die Geträumten eben nicht um ein abgefilmtes Hörbuch, in dem wir jedes Wort verstehen und durchdringen sollen, viel mehr gelingt es Ruth Beckermann durch ihre Inszenierung, die sprachliche Ebene durch eine emotionale zu ergänzen und mit Hilfe der abgelesenen Texten vor dem äußeren und inneren Auge der Zuschauenden eine Geschichte zu entspinnen. Und so verstehen wir auch ohne jedes Wort für sich gehört zu haben, was zwischen den beiden Protagonist_innen geschieht.

© Grandfilm

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Dass die Emotionen in der reduzierten Inszenierung so spürbar werden, ist auch den Darstellenden zu verdanken. Zweimal versteckt Anja Plaschg ihre aufwallenden Gefühle vor der Kamera. Ob sie hier spielt oder sich selbst durch ihre Lesung zu Tränen gerührt hat, bleibt unklar und ist auch nicht von Bedeutung. Was zählt ist die Wirkung auf das Kinopublikum, das Trauer nicht nur hört, sondern auch sieht und versteht.

Ohne fiktionalisierte Spielfilmhandlung, ohne spekulative Ausstattung und Kostüm, ist Die Geträumten vielleicht die authentischste Form der filmischen Umsetzung, ganz auf das Wesentliche reduziert, nämlich die Worte jener, um die es hier geht. Am Ende des Tages sind es ja nicht irgendwelche Liebenden, die hier einander schreiben, sondern Dichter_innen, die es verstehen, ihren Gefühlen schriftlich Ausdruck zu verleihen. Alles was über das geschriebene Wort hinaus geht ist Verfremdung – das führt Die Geträumten den Zuschauenden mit stilistischen Brüchen und Meta-Diskursen immer wieder selbstkritisch vor Augen.

Kurzum: Das filmische Experiment ist gelungen. Entstanden ist ein sehenswerter, berührender Liebesfilm, der zugegebener Maßen das Potential filmischen Erzählens nicht ausschöpft, dabei jedoch mit seiner Treue zum Inhalt überzeugt: gefühlte Worte.

Kinostart: 27. Oktober 2016


Sophie Charlotte Rieger
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