Berlinale 2018: draußen

„In Deutschland muss doch niemand auf der Straße leben.“ Das ist zumindest in meinem Umfeld einer der häufigsten Sätze zum Thema Obdachlosigkeit. Die gern von oben herab diskutierte Frage, ob obdachlose Menschen einfach nur zu faul oder vielleicht doch Opfer eines ungerechten Systems seien, beantwortet der Film draußen von Tama Tobias-Macht und Johanna Sunder-Plassmann übrigens nicht. Und das ist auch gut so. Denn darum geht es nicht.

© unafilm / Thekla Ehling

Den beiden Filmemacherinnen geht es nicht um eine Gesellschaftsanalyse, sondern um die Portraits von vier Menschen, die auf der Straße beziehungsweise im Wald leben. Ihr Zugang ist ein möglichst offener, nicht wertender: Titelsequenzen gibt es ebenso wenig wie ein Voice Over und auch die Fragen der Interviewerinnen hören wir als Publikum nicht. Was bleibt sind thematisch geordnete Erzählungen der vier Protagonisten, denen wir an ihrem Wohnort begegnen. Sie sprechen über Vergangenheit und Gegenwart, manchmal darüber, wie sie zum Leben auf der Straße gekommen sind. Sie berichten Schönes und Trauriges. Manches fordert uns heraus, wie Berichte von Kriminalität oder Drogenkonsum. Anderes lässt uns bewegt schmunzeln. Doch als Zuschauende lachen wir nie über, sondern stets mit den Menschen auf der Leinwand, begegnen ihnen auf Augenhöhe und mit Respekt. Wie wir ihre Berichte verstehen, werten, einordnen, ist dabei größtenteils uns überlassen. Nur ab und an und mit großer Vorsicht legt die Montage der Interviewsequenzen Gemeinsamkeiten der vier Männer, wie Beispielsweise eine schwierige Kindheit, nahe. Welche Schlüsse wir daraus ziehen, ist wiederum unsere eigene Angelegenheit.

Die Begegnung mit Elvis, Peter, Sergio und Matze mag ein paar Vorurteile bestätigen, dafür andere widerlegen. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass Facebook auch für Menschen auf der Straße eine wichtige Rolle spielt, zum Beispiel für den Kontakt zu den Familien? Das größte Vorurteil, das draußen widerlegt, ist jedoch das der Besitzlosigkeit. Davon zu sprechen, dass manche Menschen „nichts haben“ ist nahezu ein geflügeltes Wort, das Tama Tobias-Macht und Johanna Sunder-Plassmann mit ihrem Film dekonstruieren. Neben den Berichten der Protagonisten stehen ihre Habseligkeiten im Vordergrund, Objekte, die mit kleinen Geschichten verbunden sind oder im Alltag eine wichtige Rolle spielen. Das können praktische Dinge wie Messer oder Spritzen ebenso sein wie symbolische Erinnerungsstücke oder gar Sammlungen. Elvis zum Bespiel hat ein ganzes Album mit CDs von… na, ratet mal! Elvis natürlich. Und warum nicht? Warum sollen obdachlose Menschen denn keine Hobbys oder Interessen haben? Gerade durch die kleinen Besitztümer, die unbelebten Objekte, werden die Figuren auf der Leinwand zu Persönlichkeiten mit einer Geschichte, mit Talenten, Hobbys und Leidenschaften. Bis wir irgendwann nicht mehr obdachlose Menschen, sondern einfach nur noch Menschen sehen.

© unafilm / Thekla Ehling

Doch etwas irritiert an der Inszenierung der beiden Filmemacherinnen. Trotz der Direktheit und Natürlichkeit der Interviews, haben sich Tama Tobias-Macht und Johanna Sunder-Plassmann für die Integration eines artifiziellen Elements entschieden: Installationen der Schlafplätze der Protagonisten, lebende Gemälde, in denen die eben erwähnten Gegenstände auf magische Weise oft schwebend im Raum angeordnet sind. Mittendrin in diesem Kunstwerk sitzen die echten Menschen und wirken am Ende damit doch ausgestellt.

Was also soll diese Künstlichkeit im Konzept der Echtheit? Vielleicht sollen diese Installationen uns ein wenig aufstoßen, uns grübeln und nachdenken lassen. Im Laufe des Films verändert sich mit großer Wahrscheinlichkeit das Bild, das wir von obdachlosen Menschen haben. Es erweitert sich durch die vier Geschichten, die wir hören und die durch die Objekte der Installationen repräsentiert werden. Aber es bleibt eben immer noch ein Bild! Wir sollen uns nicht in klassistischer Arroganz zurücklehnen und meinen, in unserem bequemen Kinosessel jetzt alles verstanden zu haben. Wir sind und bleiben auf dieser Seite der Leinwand und das was wir sehen bleibt ein konstruiertes, montiertes Bild, das wir aus sicherer Distanz betrachten. Und so sind die Installationen schließlich auch nicht weniger „echt“ als die Interviews. Beide Elemente sind Teil des Kunstobjekts Dokumentarfilm, das in diesem Fall vier Portraits konstruiert. Bilder. Nicht mehr und nicht weniger.

Sophie Charlotte Rieger
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