Berlinale 2017: Pokot (Spoor)

Die alte Duszejko lebt mit zwei treuen Hunden in einer einsam gelegenen Waldhütte, studiert in ihrer Freizeit aus tiefer Überzeugung Horoskope und gibt an der Grundschule im nächsten Ort Englischunterricht. Bereits ohne das Ausmaß ihrer fast schon pathologischen Leidenschaft für den Umweltschutz ist eines glasklar: Duszejko ist die Sorte Frau*, die andere mit „die alte Verrückte“ bezeichnen und die vor 500 Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden wäre.

© Robert Paêka

Denn Duszejko ist unbequem. Nicht nur weil sie mit ihren astrologischen Weissagungen der einen oder anderen auf die Nerven geht. Vielmehr stellt sie für die lokale Jagdgemeinschaft einen wandelnden Albtraum dar. Ihre Anzeigen bei der Polizei wegen unerlaubten Wilderns sind schon ärgerlich genug, aber Duszejko schreckt auch nicht davor zurück, höchst selbst und wild keifend in einen ihrer Meinung nach illegalen Jagdausflug einzugreifen. Ernstnehmen tut sie natürlich niemand. Selbst dann nicht, als eine mysteriöse Mordserie der Polizei ein echtes Rätsel aufgibt. An den Tatorten befinden sich Tierspuren und Duszejko ist davon überzeugt, das Wild würde nun seine berechtigte Rache nehmen.

Pokot ist so etwas wie ein polnischer „skandinavischer Krimi“, mit zum Teil bitterbösem Humor, der die Absurdität des Lebens entlarvt. Gleichzeitig ist Pokot aber auch ein Märchen und ein realistisches Drama. Irgendwie von allem ein bisschen – und zwar von jedem Element genau die richtige Portion.

Die Hauptfigur erobert trotz ihres potentiell nervtötenden Temperaments umgehend die Herzen des Publikums. Hauptdarstellerin Agnieszka Mandat-Grabka verkörpert eine Frau, die zugleich geheimnisvoll, fürsorglich, verschmitzt und hysterisch sein kann. Duszejko ist so facettenreich wie der Film, den sie anführt. Pokot ist ganz und gar ihre Geschichte: Die Zuschauer_innen sind dazu angehalten, ihre Sorge um die Tiere und die Natur ebenso zu teilen wie ihr Entsetzen, ihre Wut und Verzweiflung in Anbetracht der illegalen Jagd.

© Robert Paêka

Dabei geht es Regisseurin Agnieszka Holland und der Autorin des zu Grunde liegenden Romans Olga Tokarczuk um weit mehr als nur einen Aufruf zum Tierschutz. Die heterogen männliche Jägergemeinschaft dient hier ähnlich wie in Virpi Suutaris Kurzfilm Eleganssi als Mikrokosmus, der gesamtgesellschaftliche Strukturen offenlegt. Dazu gehört neben hierarchischen Machtstrukturen und Korruption auch Sexismus. Es ist sicher kein Zufall, dass im örtlichen Puff die Sexarbeiterinnen im Häschenkostüm herumlaufen: Sie unterscheiden sich als Beute kaum von den Vierbeinern im Wald. Frauen* wie Tiere existieren nur zum Zeitvertreib der Männer*, zur Zierde des Egos: Ein mächtiges Hirschgeweih an der Wand, eine unterdrückte Frau* in der Küche. Tatsächlich verhalten sich alle männlichen* Filmfiguren, die zu der Jägergemeinschaft gehören oder mit ihr sympathisieren, hochgradig misogyn. In dieser Hinsicht droht Agnieszka Holland leider ab und an in uninteressante Stereotypen abzudriften.

Ein weiterer Themenkomplex ist die Religion, die mit der biblischen Botschaft „Macht Euch die Erde untertan“ der Tierquälerei wahrlich keinen Riegel vorschieben kann. Vom Priester ist also keine Unterstützung zu erwarten. Er rät Duszejko lediglich für die Seele zu beten. „Für die Seele meiner Hunde?“ fragte sie. „Nein, für Ihre eigene.“ Aber von Beten hält diese Heldin wahrlich nichts. Im Gegenteil: Ihrem Liebhaber Boros stellt sie die umgekehrte Gretchenfrage, bevor sie ihn ins Bett lässt. Zu ihrem großen Glück ist er Atheist.

© Robert Paêka

Natürlich ist auch die Kritik der katholischen Kirche größer als die Frage nach angemessenem Umweltschutz. Es geht um das scheinheilige Wahren von patriarchalen Traditionen, die eine Kultur der Gewalt aufrechterhalten. Lieber als mit den Schüler_innen einen Ausflug in den Wald zu machen, soll Duszejko doch endlich die netten Klassenfotos aufhängen, auf dem ihre Schützlinge in Jägermontur Flinten in die Kamera halten. So sieht Agnieszka Holland ihr Heimatland.

Die Mischung aus einer liebenswerten, aber undurchsichtigen Heldin, verschrobenen Charakteren, bissigem Humor, wunderschönen Naturaufnahmen und satirischen Seitenhieben ist Agnieszka Holland ein kluger wie auch unterhaltsamer, ein wahrlich bezaubernder Film gelungen.

Dass nicht alle Menschen mit seiner Botschaft umgehen können, zeigten die leisen, aber doch deutlich hörbaren Buhs nach der Pressevorführung. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Pokot nicht nur Jägern, sondern auch Maskulinisten gehörig gegen den Strich geht. Donald Trump beispielweise, da bin ich sicher, würde Pokot in den USA verbieten (wer weiß, vielleicht tut er es noch). Aber das ist nur ein weiterer Grund diesen Film zu lieben!

Sophie Charlotte Rieger
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