Berlinale 2017: Fridas Sommer (Estiu 1993)

Traurig und verschlossen wirkt die junge Protagonistin in Carla Simóns Spielfilmdebut Estiu 1993. Hilflos schaut Frida (Laia Artigas) dabei zu, wie die Möbel aus ihrer Wohnung getragen werden, lässt sich wie in Trance in ein Auto setzen und davon fahren, raus aus Barcelona und aufs Land. Dort soll sie jetzt bleiben, bei ihrem Onkel, der Tante und der kleinen Cousine. Aber wie lange? Und warum? Was ist mir ihren Eltern geschehen?

© Inicia Films / Lucia Faraig

Dass auf diese Fragen so lange keine Antwort folgt, ist keine Schwäche, sondern eine Stärke von Simóns kleinem Coming of Age Drama. Indem die Regisseurin mit ihrer Erzählung immer hautnah an der Hauptfigur bleibt, beschränkt sie die Perspektive der Zuschauer_innen auf die ihrer Heldin. Was das Mädchen nicht versteht, muss also auch uns ein Rätsel bleiben. Niemals bewegt sich die Kamera von Frida weg, bleibt immer in ihrer Nähe und kann so die Gespräche der Erwachsenen auch nur aus der Entfernung, manchmal gar nur hinter verschlossenen Türen verfolgen. Wie wir später, ganz zum Ende des Films, erfahren, weiß auch Frida lange nicht, woran ihre Eltern verstorben sind. Wir können uns anhand der Kommentare und des Verhaltens der Erwachsenen jedoch viel früher einen Reim darauf machen als das 6 jährige Mädchen.

Trotz alledem bleibt Frida über weite Strecken eine rätselhafte Figur. Mit ausgesprochen wenig Dialog widmet sich Carla Simón vor allem der Interaktion Fridas mit ihrer jüngeren Cousine und fängt dabei wundervoll authentische Momente kindlichen Spiels ein. Statt eine Geschichte zu erzählen, reiht Estiu 1993 einzelne Momente in Fridas neuem Leben aneinander und zieht die Beobachtung stets der Dramatisierung vor. Das Tempo der Inszenierung ist dementsprechend langsam, die Spannungsbögen flach bis nicht vorhanden. Das fordert selbst ein geduldiges Erwachsenenpublikum stellenweise heraus, für ein Kinderpublikum aber scheint mir diese Dramaturgie gänzlich ungeeignet. Estiu 1993 ist weniger ein Film für als über Kinder.

© Inicia Films / Lucia Faraig

Der Mehrwert des Konzepts liegt in der Nähe zu Frida, die sich mehr und mehr zu einem „schwierigen“ Kind entwickelt, bockt und zickt, ihre Cousine ständig in Gefahr bringt und damit schließlich die Nerven ihrer Adoptiveltern überstrapaziert. Die wachsende Aggression, insbesondere auf Seiten ihrer Tante, verstärkt jedoch Fridas Rückzug und Rebellion. Die kleine Familie droht in eine Abwärtsspirale aus Unverständnis, Frust und Trauer zu geraten. Dabei sind die Zuschauer_innen immer auf der Seite Fridas, erleben die Situationen aus ihrer Perspektive und auch wenn nicht all ihre Handlungen nachvollziehbar wirken, so lassen sie sich durch Carla Simóns konsequenten Fokus auf die Heldin zumindest in den Gesamtkontext einordnen. Statt aus erwachsener Höhe verständnislos auf das „schreckliche Kind“ hinunterzublicken, erhalten wir auf Augenhöhe die Möglichkeit, Frida zu verstehen.

Dass das tatsächlich funktioniert, demonstriert das Ende des Films. Bis zu diesem Punkt mag sich so manche_r im Kinopublikum ratlos fühlen, eine nicht zu überbrückende Distanz zur Heldin wahrnehmen. Wenn Frida aber am Ende mitten in einer Szene von liebevoller Ausgelassenheit zu weinen beginnt, ist für diesen Ausbruch keinerlei Erklärung nötig. Ohne es unbedingt in (erwachsene) Worte packen zu können, verstehen wir ihre Tränen, ihre Trauer, ihre Verzweiflung. Und wir verstehen, dass ihr Weinen keinen Tiefpunkt, sondern ein Happy Ending darstellt.

© Inicia Films / Lucia Faraig

Die Einfühlung in eine 6 jährige Hauptfigur, die nicht mit kognitivem Verständnis verwechselt werden sollte, ist aber vor allem für die Elterngeneration ein Gewinn, ein möglicher Zugang zum eigenen Nachwuchs oder eine Hilfestellung für Konfrontationen mit anderen „schwierigen“ Kindern. Das auf der Berlinale mit diesem Film anvisierte Kinderpublikum – Estiu 1993 läuft in der Sektion Generation Kplus – profitiert von dieser Geschichte meiner Meinung nach wenig. Bei dem langsamen Erzähltempo am Ball zu bleiben, dürfte den kleinen Zuschauer_innen schwer fallen. Darüber hinaus ist der durch Fridas Weglaufen ausgelöste positive Wendepunkt nicht unbedingt pädagogisch wertvoll zu nennen. Insofern ist Estiu 1993 in seiner Sektion ein wenig deplatziert, aber definitiv ein würdiger Teilnehmer der Berlinale 2017.

Sophie Charlotte Rieger
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