Berlinale 2012: Winterdieb (L’enfant d’en haute)

Scheinbar gibt es in Frankreich nur zwei Schauspielerinnen. Einmal ist das Noémie Lvovsky, die 2012 gleich zweimal im Wettbewerb der Berlinale vertreten ist (Les adieux à la reine und A moi seule), zum anderen ist das Léa Seydoux, die im Fokus des Eröffnungsfilms stand und in Winterdieb (L’enfant d’haut) erneut in tragender Rolle auftritt. Die Hauptdarsteller dieses Films von Ursula Meier ist jedoch Kacey Mottet Klein, der den zwölfjährigen Simon spielt.

Simon verkauft geklaute Skier, Jacken, Brillen – einfach alles, was im Skigebiet nicht niet- und nagelfest ist. Das tut er nicht zum Spaß, sondern um sich und seine ältere Schwester Louise (Léa Seydoux) zu ernähren. Die nämlich verbringt ihre Tage lieber mit ihren Liebhabern, als etwas zur Haushaltskasse beizusteuern. Die meiste Zeit ist Simon auf sich gestellt und so ist es auch kein Wunder, dass er extrem selbständig und geschäftstüchtig ist. Er wirkt so taff und mutig, so angepasst an seine schwierigen Lebensverhältnisse, dass es eine Weile dauert, bis wir anfangen, Mitleid mit ihm zu empfinden.

© Arsenal

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Die Frage nach dem Verbleib der Eltern von Simon und Louise baut von Beginn an Spannung auf. In dem Moment, in dem die Wahrheit ans Licht kommt, ändert sich unser kompletter Blick auf den Film. Mich hat es fasziniert, wie sehr diese Information meine Wahrnehmung der Figuren verändert hat. Dramaturgisch ist dieser Einschnitt ausgezeichnet gesetzt und gibt der Geschichte ab etwa zwei Dritteln der Laufzeit noch mal neuen Schwung. Plötzlich habe ich tiefes Mitleid mit Simon, vor allem deshalb, weil das Drama seines Lebens plötzlich so realistisch wird. Vielleicht liegt es an meinen Jahren in der Kinder- und Jugendarbeit in Berlin-Wedding, dass mir Winterdieb (L’enfant d’haut) nun wie aus dem Leben gegriffen erscheint. Aber Ursula Meier inszeniert hier kein RTL 2 Format, das das Leben sozial schwacher Familien überdramatisiert. Es gibt keine Musik, die mir Tränen abzwingt, die ich lieber für mich behalten will. Auch verzichtet sie darauf, aus diesem Spielfilm eine Sozialstudie zu machen, die auf gesellschaftlicher Ebene ergründet, wie Louise und Simon in diese Situation geraten konnten. Winterdieb (L’enfant d’haut) will einfach nur die Geschichte eines kleinen Jungen erzählen.

Kacey Mottet Klein zeigt eine erstaunliche Schauspielleistung. Wir nehmen ihm den zu früh erwachsen gewordenen Jungen sofort ab. Auch tiefe Emotionen weiß er glaubwürdig darzustellen.Winterdieb (L’enfant d’haut) hat mich außerdem mit Léa Seydoux ausgesöhnt, die hier eine vollkommen andere Rolle als in Les adieux à la reine spielt und somit zeigt, dass sie mehr als nur ein hübsches Filmgesicht ist. Im Gegensatz zu ihren Rollen im Berlinale-Eröffnungsfilm und dem Sommerhit Midnight in Paris ist ihre Louise hier wahrlich keine Sympathieträgerin. Auch Gillian Anderson darf übrigens einmal mehr im Berlinale-Wettbewerb auftreten, allerdings erneut in einer ziemlich belanglosen Nebenrolle.

Besonders gut gefällt mir das Ende von Winterdieb (L’enfant d’haut). Weder findet Ursula Meier ein Happy End für die vertrackte Situation ihrer Protagonisten, noch lässt sie sie mit ihrem Drama im Regen stehen. Stattdessen schenkt sie ihnen und uns einen klitzekleinen Hoffnungsschimmer. So werden die von ihr dargestellten Probleme weder bagatellisiert noch überdramatisiert.

Fazit: Winterdieb (L’enfant d’haut) ist ein netter, kleiner Film über eine Kindheit, die keine ist. Nicht mehr und nicht weniger.

Sophie Charlotte Rieger
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