Augenblicke: Gesichter einer Reise

Mit 89 Jahren wurde die Regisseurin Agnès Varda, deren Oeuvre bei imdb stolze 52 Filme umfasst und die zu den großen Filmlegenden des französischen Kinos gehört, gerade erstmalig für einen Oscar nominiert (den sie dann übrigens nicht erhielt). Damit war sie die älteste jemals für einen Oscar nominierte Person. Interessanter Weise hatte sie schon ein Jahr vorher, im November 2017, einen Ehren-Oscar für ihr Lebenswerk erhalten, obwohl sie noch nie für einen ihrer Filme nominiert worden war. Das sagt schon wieder schrecklich viel über die Position von Frauen* in der Filmbranche.

©Agnès Varda-JR-Ciné-Tamaris, Social Animals 2016

Aber darum soll es an dieser Stelle ausnahmsweise einmal nicht gehen, sondern um Vardas für den Oscar nominierten Film Augenblicke, der in Zusammenarbeit mit dem Streetart Künstler JR entstand. Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Künstler_innen, die auch gemeinsam und gleichberechtigt durch den Film führen, ein ziemlich ungleiches Paar zu sein. Varda klein, JR groß, erstere alt, letzterer jung. Aber bei diesen Oberflächlichkeiten hört es dann eigentlich schon auf und darin liegt bereits die erste Botschaft ihres Films: Der Mensch ist mehr als Oberfläche.

©Agnès Varda-JR-Ciné-Tamaris, Social Animals 2016

Agnès Varda und JR teilen die Liebe zum Bild und zu einer teilnehmenden Kunst, die sich nicht im abstrakten Raum, sondern mitten unter den Menschen, mitten in der Welt abspielt. Gemeinsam reisen sie mit einem zur Fotokabine umgebauten Bus durch französische Dörfer, sprechen mit den Bewohner_innen, fotografieren sie und kreieren Plakatinstallationen an bewohnten wie auch verlassenen Gebäuden. Die Schwarz-Weiß-Bilder sind dabei mehr als nur Fotografien, mehr als nur Abbild. Sie sind Geschichten von Menschen und Orten, sie sind Kommentare, Erinnerungen, Unterstreichungen. Motiv und Ausstellungsort stehen in einem untrennbaren Zusammenhang und erzeugen gemeinsam eine breite Bedeutungsebene für die Protagonist_innen wie auch das Kinopublikum.

©Agnès Varda-JR-Ciné-Tamaris, Social Animals 2016

Dabei entstehen die Bilder nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern natürlich auch durch den Film selbst, der zwischen den klassisch mit Handkamera gedrehten dokumentarischen Sequenzen immer wieder mit perfekt komponierten Motiven aufwartet, mit „lebenden Fotografien“, die ebenfalls mehr als eine Oberfläche, nämlich auch eine neue Sinneinheit darstellen. Augenblicke ist deutlich anzumerken, dass hier mit Varda und JR zwei versierte Bildkünstler_innen am Werk waren.

©Agnès Varda-JR-Ciné-Tamaris, Social Animals 2016

Die Interaktion der beiden Künstler_innen ist unbeschwert, von kindlicher und ansteckender Freude getragen, der Respekt, den die beiden füreinander hegen, in jedem Moment spürbar. Varda und JR agieren stets auf Augenhöhe, ziehen zusammen an einem kreativen Strang und bringen sich gleichberechtigt in die Erzählung ihrer gemeinsamen Geschichte ein. Nur in einer Hinsicht entsteht schließlich ein Ungleichgewicht: Während sich Agnès Varda ihrem Kinopublikum öffnet, persönliche Erfahrungen und Erinnerungen teilt, Gefühle zeigt, bleibt JR stets eine Kunstfigur mit Hut und Sonnenbrille – eine Verkleidung, die Varda wiederholt kommentiert. Am Schluss nimmt er ihr zu Liebe einen kurzen Moment die Brille ab – aber nur für sie. Wir im Kinosaal sehen ihn verschwommen, vermeintlich aus Vardas durch eine Augenerkrankung beeinträchtigte Perspektive. Fremd bleibt er uns trotzdem, während Agnès Varda spätestens wenn sie im Auto beschwingt die Radiomusik mitsingt unser aller Herzen erobert.

©Agnès Varda-JR-Ciné-Tamaris, Social Animals 2016

So vergnüglich es auch ist, den beiden reisenden Künstler_innen zuzuschauen, so sehr drängt sich doch auch die Frage auf, worin das Ziel ihrer Reise besteht. Die Begegnung mit Menschen und ihren Geschichten, mit Arbeits- und Lebenswelten, zieht sich als roter Faden zwar durch den Dokumentarfilm, doch bleibt der Sinn des Unternehmens, die Frage hinter dieser kleinen Forschungs- und Entdeckungsreise, unausgesprochen. Alles für die Kunst?

©Agnès Varda-JR-Ciné-Tamaris, Social Animals 2016

Egal wie nah Varda und JR den Menschen in diesem Film kommen, wenn sie persönliche Geschichten in Plakatgemälde verwandeln, so bleibt diese Kunst doch stets ein vergänglicher Kommentar der Realität. Sie ist ebenso flüchtig wie das Leben selbst. Sie ist der Umwelt ausgeliefert, dem Wetter wie auch den Menschen. Damit tritt der Unterschied zwischen Film und Installation beziehungsweise Performance deutlich zu Tage. Wo sich ersterer konservieren lässt, leben die letzteren im und vom Moment. Sie sind Augenblicke. Und als solche erzeugen sie deutlich mehr Faszination als der eher klassisch erzählte Dokumentarfilm, der vornehmlich von seinen Hauptfiguren und ihrer Kunst und weniger von sich selbst lebt. Warum Agnès Varda also ausgerechnet hierfür ihre erste Oscar-Nominierung erhalten hat, ist mir ehrlich gesagt nicht ganz klar.

©Agnès Varda-JR-Ciné-Tamaris, Social Animals 2016

Augenblicke ist eine charmante, kleine Begegnung mit der lebenden Filmlegende Varda und ein interessanter Einblick in die Arbeit von JR. Eine kleine Reflektion über die Natur der Kunst, über ihr Verhältnis mit der Welt und den Menschen, die sie erschaffen. Eine kleine Reise durch verschiedene ländliche Regionen Frankreichs und Begegnung mit ihren Bewohner_innen. Nicht mehr und nicht weniger. Aber vielleicht reicht das auch.

Kinostart: 31. Mai 2018

Sophie Charlotte Rieger
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